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Literatur bewegt
Carlo sitzt in der Bahn. Die Dinge geraten in Bewegung.
Klaus Nowak über Carlo aus "Keiner hält Don Carlo auf" von Oliver Scherz
Wo würdest du aussteigen? Das ist eine Frage, die man sich auf der Reise durch das Leben vielleicht immer wieder einmal stellen sollte.
Silke Rabus
›Den Lkws dabei zusehen, wie sie links an einem vorüberziehn‹, ruft Can vom Rücksitz gegen den Fahrtwind an. ›So werden Abenteuergeschichten geschrieben.‹
Sarah Jäger in "Nach vorn, nach Süden"
Nichts als Auto. Nein, bitte nicht. Bitte nicht andauernd. Meine Ohren sind schon Auto. Meine Ohren sind schon voll damit. Soviel Fahren in mir den ganzen Tag fast.
Michael Hammerschmid in seiner Kolumne "denk mal gedichte!"
Rory ist der King. (…) Und sein Fahrrad hat 26 Gänge.
Stian Hole in "Garmans Straße"
Sieben Schichten Holz, zwei Achsen, Schrauben, acht Kugellager und vier Räder. Was von außen wie ein modernes Spielzeug aussieht, bedeutet für uns sehr viel mehr.
Skateboard Club Vienna
Dance is the hidden language of the soul.
Martha Graham Reflects on Her Art and a Life in Dance.
Wir schreiten eben nicht durch den Text wie durch einen Korridor, der nur einen Ein- und einen Ausgang besitzt. Wir nehmen Abkürzungen, wählen aus, finden Querverbindungen und nehmen Umwege.
Ben Dammers
Inhalt
Die 1002. Seite
Katja Seifert
ist Franz Lettner
Einsteigen, bitte!
Silke Rabus fährt los
Vom Flanieren der Blicke
Ben Dammers bewegt sich im Buchraum
Klaus Nowak fährt Bahn
Fahr Rad
Peter Rinnerthaler ist ein Stadtradler
Wer fährt mit?
Ralf Schweikart sitzt am Steuer
Push, Push, Push
Alexandra Hofer besichtigt den Skatepark
GoGO Muck
Sarah Auer tanzt ab
Von Fury bis Ostwind
Simone Weiss sitzt fest im Sattel
Animation bewegt
Ingrid Tomkowiak weiß, was da abläuft
Hinab, hinab, hinab!
Christina Pfeiffer-Ulm stürzt nicht ab
Metallpizza ahoi!
Heidi Lexe fliegt das Raumschiff
denk mal gedichte!
Michael Hammerschmid hält nicht still
Immer der Torte nach
Marlene Zöhrer auf den Spuren von Thé Tjong-Khing
Bald, bald bin ich da
Caroline Roeder kommt an
Sachbücher bewegen
Franz Lettner ist mobil
Und: los!
Alle sind unterwegs
Tegan und Sara Quin & Tillie Walden
sind zeitlos
"Kayabu" von Eymard Toledo
wurde in der grund_schule der künste gelesen
Liebe Leserinnen und Leser,
"Der Zuschauer", schrieb Friedrich Schiller 1803 im Aufsatz "Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie" (einer Art Vorrede des Trauerspiels "Die Braut von Messina"), "will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein". Das wollen Zuschauer:innen – und Leser:innen, ergänze ich – heute auch noch. Katja Seifert ist offenbar – wie auf der 1002. Seite zu sehen – darüberhinaus der Meinung, bei Pferden sei das nicht anders. Man könne sie durch Unterhaltung in Bewegung setzen. Zwar ist nicht ersichtlich, welches Buch genau das Pferd antreibt, aber es muss sehr gut sein. Pferde sind ja nicht dumm, die rennen nicht jeder gerade angesagten Rübe hinterher. Einen Moment kam mir in den Sinn, hier über das Esel-Karotten-Prinzip nachzudenken, intrinsische Lesemotivation bei Kindern, den Unterschied zwischen Büchern und Gemüse und die Frage, warum jene Pferde, denen nichts vor der Nase hängt, auch galoppieren. Da bei derartigem Räsonieren bei mir nie etwas Unterhaltsames herauskommt, lasse ich es.
Unmittelbar nach dem eingangs zitierten Satz geht es nämlich bei Schiller so weiter: "Das Vergnügen sucht er [der Zuschauer] und ist unzufrieden, wenn man ihm da eine Anstrengung zumutet, wo er ein Spiel und eine Erholung erwartet." Gut, dies ist hier kein Theater, auf dem ein Trauerspiel zur Erholung gegeben wird (ob das mit der »Braut« geklappt hat, bezweifle ich), aber vermutlich erwarten Sie von 1001 Buch eher anregende als anstrengende Beiträge. Schließlich geht es hier um Literatur, ein – bisweilen poetisches – Spiel, und den Versuch, andere zum Mitspielen, respektive Mitlesen zu bringen. Das soll allen Beteiligten auch Vergnügen bereiten, bestenfalls ein "veredeltes", wie Herr Schiller das nannte. Was wir diesmal vergoldet – oder zumindest verchromt – haben? Bewegung in der Kinder- und Jugendliteratur, damit wollen wir Sie bewegen.
Naheliegenderweise führt der erste Weg an einen Ort, der nur als Warteraum für jene dient, die dort weg wollen. Die Haltestelle ist ein Versprechen, das manchmal nicht eingehalten wird. Wenn in der Literatur ein Bus oder Zug Verspätung hat, ist das aber – im Gegensatz zum Leben – immer geplant. Literarische Haltestellen sind Drehscheiben und dramaturgische Wendepunkte, nicht selten kommen ungewöhnliche Passagiere – ein Tiger mit Zylinder, ein gut gelauntes gelbes Männchen, eine Reisegruppe Kirschen, Tomaten und Käfer, ein bloßfüßiges Mädchen mit Buch – dazu. Figurenkonstellationen, Beziehungen, Stimmungen und Pläne können sich bei jedem Halt ändern. Ist das Abenteuer auf Schiene, ist sowieso alles möglich. Mit abhanden gekommenen Zugführern oder Juwelen, Blinden Passagieren oder Notbremsungen ist man in der Literatur häufiger konfrontiert als mit Weichenstörungen im realen Schienenverkehr. Bei Autopannen ist es eher anders rum: Zumindest die Hälfte der jugendlichen Held:innen, die mit Ladas, VW-Bussen oder anderen Gefährten auf literarischen Straßen unterwegs sind, kommen nicht ans Ziel. Das aber ohnehin meist an einem nicht exakt zu bestimmenden Sehnsuchtsort liegt, ein Motorschaden bedeutet also nicht zwangsläufig Scheitern.
Wer keinen externen Antrieb hat, muss sich selbst bewegen, um bewegt zu werden: in die Pedale treten, um voranzukommen und zu wachsen; auf dem Skateboard das Gleichgewicht auch in Schräglage halten und Angst – vielleicht auch Wut – zu überwinden; dem Rhythmus der Musik folgen, sich und seinem Körper so jenen Raum verschaffen, den es braucht, um ganz bei sich zu sein. So viel Pferdestärken bewegen die Kinder- und Jugendliteratur: Bilderbücher, Sachbücher, Erzählungen, Romane und Gedichte, die wiederum uns, alle Leser:innen, unterhalten – und bewegen. Dass wir dabei den Büchern nicht ständig nachrennen müssen, sondern sitzen, lümmeln, liegen können, wo und wie wir wollen, ist ein großer Vorteil. Um bewegt zu werden, muss man sich nicht unbedingt bewegen. Ohnehin ist man im Zustand tiefster Bewegung oft regungslos.
Gute Unterhaltung wünsche ich Ihnen auf den folgenden Seiten, wenn Sie sich dabei erholen, ist mir das auch recht.
Franz Lettner
Alles auf Schiene?
Klaus Nowak fährt Bahn
Zugfahren ist wieder angesagt. Auch in der Kinderliteratur. In den (Bilder-)Büchern für die Jüngeren sind Lokomotiven und Züge ohnedies schon lange präsent. Man denke nur an Klassiker wie »Henriette Bimmelbahn« oder »Thomas, die Lokomotive.« Die Jugendliteratur nahm aber dann doch lieber das Auto und machte sich in »Road Fiction« auf den Weg, um die große Freiheit zu spüren. Welchen Verlauf hätte Herrndorfs »Tschick« genommen, wenn der Lada nicht angesprungen wäre und seine Jungs die Regionalbahn hätten nehmen müssen? Zug fahren heißt ja Vorausplanen. Tickets besorgen, Plätze reservieren, womöglich gar Routenpläne lesen oder Wagenstandanzeiger beachten. Und Reiselektüre besorgen. Die bringt einen dann bestenfalls — zumindest in der Kinderliteratur — via Bahnsteig 13 oder 9¾ an magische Orte oder mit dem »Polarexpress« sogar bis zum Weihnachtsmann. Das Zauberwort dafür: Believe! 1001 Buch glaubt den Versprechen der Schienen und hat sich unter die Bahnleute gemischt.
Lokführer:innen oder über das Verhältnis von Mensch und Maschine. Nicht mehr in den Top-Ten der "Was-ich-später-einmal-werden-möchte"-Listen, weit abgeschlagen hinter Polizist:in und Arzt/Ärztin, auch klar hinter Pilot und Astronaut, aber trotzdem immer noch ein Wunschberuf vieler Kinder. Warum man Lokführer:in werden möchte, ist für viele wohl eine genauso merkwürdige Frage wie diejenige für Jim Knopf, warum man in einem so kleinen Land wie Lummerland eine Lokomotive braucht: "Nun, ein Lokomotivführer braucht eben eine Lokomotive, denn was sollte er sonst führen? Vielleicht einen Fahrstuhl? Aber dann wäre er ein Fahrstuhlführer. Und ein richtiger Lokomotivführer will Lokomotivführer sein und sonst gar nichts. Außerdem gab es auf Lummerland auch gar keinen Fahrstuhl."
Aha. Vielleicht liegt der eigentliche Reiz ja darin, um beim Fahrstuhl-Bild zu bleiben, dass man derjenige ist, der die Knöpfe drückt, der bestimmt, wo es lang und hin geht. Also Pilot des eigenen Lebens. Und nicht Passagier.
Zwei britische Bilderbücher spielen reizvoll mit der vermeintlichen Machtposition im Führerstand und zeigen uns letztlich völlig überforderte Lokführer gleichsam auf verlorenem Posten. In "Drei dicke Freunde" fährt ein kleiner Zug "jeden Tag vom Haus des Lokführers bis in die Stadt und wieder zurück." Ein klarer, ruhiger, geregelter täglicher Ablauf. Es gibt drei Haltestationen und drei Waggons in verschiedenen Farben. (Wobei der ganze Zug in seiner illustrativen Ausführung wie ein Holzspielzeugmodell anmutet). Dadurch gibt es einen klaren Rhythmus samt Wiederholungen: Halten – Einsteigen lassen – Anfahren – "Tschi-pfu, tschi-pfu – tschipfu-pfu-pfu". Was allerdings nicht so leicht auszurechnen ist, ist Anzahl und Größe der Passagiere. Und als eines Morgens ein Bär, ein Walross und ein Elefant im winzig kleinen Zug mitfahren wollen, fragt man sich als Betrachter:in besorgt mit dem Lok-Helden, ob das gut gehen kann – und erkennt obendrein: wer in diesem Reise-Spiel lenkt, ist letztlich auch nur einer, der dient. Die wahren Könige sind die (animalischen) Kunden, sprich Passagiere.
…
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Aakeson & Hole: Dinge, die verschwinden
Ahrer: Limettensommer
Bach: Von da weg
Bär: Drei Wasserschweine brennen durch
Becker: Nachhaltigkeit
Black: Elfenerbe
Buchet & Katstaller: Von wegen Regen!
Connor: Hat irgendjemand Oscar gesehen?
Dulak & Cobb: Ein Tiger im Zug
Dumas & Neumann: Mein Leben ist Musik
Eggers: Die Augen und das Unmögliche
Elsässer: Mute – Wer bist du ohne Erinnerung?
Faber & Fahlén: Wer baut unser Haus?
Frauhammer & Töpperwien: Voll ungerecht!
Gamillscheg & Süßbauer: Café Käfer
Gmehling & Schilling: Molly Blume
Gravel: Käferkolonne
Grossmann-Hensel: Ich sehe was, was ihr nicht seht
Gugger & Röthlisberger: Der Wortschatz
Hach: Popcorn süß-salzig
Höfler & Waechter: Ameisen in Adas Bauch
Pirker & Frühwirth: Gig Gürtelmull machts anders
Jacobs & Williams: Wenn die Erde bebt!
Janisch & Bansch: Auf dem Weg
Jonas: Lotte fährt Zug
Kaster & Rufener: Das Nachtkind
Knop & Töpperwien: Wem gehört die Welt?
Kobabe: Gender Queer
Ljunggren & Gustavsson: Eine schlimmeNachtgeschichte
Marcinkevicius & Dagilè: Als die gelben Blätter fielen
Mauz: Geisterbahn, voll abgefahren!
Mohl & Kranz: Der Schlummerang
Mühle: Morgen bestimme ich!
Mühlenberg: Luis’ Plan
Müller: Herr Meier und Herr Müller
Müller: Claras Weg
Niemöller: Die Gurkentruppe
Nielsen: Der Tunnelbauer
Orlovský & Roher: Ida, Chris und Emil im Zug
Palacio: Pony
Pastorini & Barrier: Weise und rebellisch
Pettersen: Vardari
Poliquin & Hanmer: Das Museum der unnützen Körperteile
Port: Mein tröstliches Buch
Quin & Walden: Junior High
Richards: Die Geschichte der Wörter für Kinder
Roeder & Lötscher: Das ganze Leben
Röckl: Bus
Rørvik: Die Ritter holen Gold
Roskifte: Alle reisen
Ross: Der verkehrte Himmel
Tienti: Wer schnappt Ronaldo?
Timmers: Bär und seine Brille
Toledo: Kayabu
Schwartz: Verborgen im Fels
Selge & Khoueiry: Die Weltreise
Simler: Eine Nacht in der Savanne
Sippl & Brandhofer & Rauscher: Futures Literacy
Smatana: Hugo, der Mistkäfer
Stegeman & Janssen: Die Gefühle der Tiere
Stepanenko & Jaskina: Die Geschichte der Schrift
Spires & Cho: Na dann, gute Nacht!
Stith & Lechuga: Der schwarze Strand
Valentini & Abastanotti: Die Shoah den Kindern erklärt
Vieweg: Die Stadt der Schattenschläfer und die Melodie der Albträume
Wirlinger: Die Fürstin der Raben
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