Liebe Leserinnen und Leser,
Stoff ist ein wunderbar vieldeutiges Wort. Vom altfranzösischen estofer im Sinn von ausstopfen, polstern kommend, bezeichnete stof im Niederländischen das Tuch. Im Deutschen steht es auch heute immer noch zuerst einmal für alle Arten von textilen Geweben – für den Stoff, aus dem unsere Kleider sind. Eine körperliche Komponente hat der Stoff auch in den Naturwissenschaften, in der Philosophie verliert er langsam seine unmittelbare Angreifbarkeit. In beiden Feldern bezeichnet das Wort etwas Grundlegendes, aus dem anderes, auch mehr gemacht werden kann. Damit bin ich schon in der Literatur. Bei Shakespeare heißt es im »Sturm«: »We are such stuff/ As dreams are made on; and our little life/ Is rounded by a sleep.« (In der neuen Übersetzung von Frank Günther: »Wir sind vom Stoff,/ Aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben/ Beginnt und schließt ein Schlaf.«)
Wie sehr die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Begriffs aufeinander bezogen sein können, zeigen zwei Beiträge exemplarisch: Michaela Weiss und Tamara Bach greifen auf alte Märchen zurück, in denen selbst wiederum textile Materialien eine Rolle spielen. Michaela Weiss bearbeitet auf ihrer 1002. Seite ihren (durchaus »harten«) Stoff mittels Farbe und Faden, Tamara Bach rückt dem ihren mit Worten, Schere und Nähmaschine auf den Leib. Beide machen aus dem alten Stoff ein neues Gewebe.
In dieser Art ist diese Ausgabe von 1001 Buch zu lesen, wir haben den »Stoff« quasi semantisch in Bezug auf die Kinder- und Jugendliteratur durchdekliniert. Herausgekommen ist ein Heft in drei Abteilungen. Die erste betrifft den Stoff in der Literatur und seine Bearbeitung. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Annette Kautt macht den Anfang, sie leistet Definitionsarbeit und zeigt zugleich an zwei Beispielen, wie unterschiedlich mit literarischen Stoffen umgegangen wird. Darauf folgen Autorinnen, die über das Ordnen des Stoffs beim Schreiben Auskunft geben: Holly-Jane Rahlens offenbart, dasss sie ein grundsätzliches Problem hat mit der Unterscheidung zwischen »Plot« und »Story« (im Sinn von E. M. Foster) und erklärt, wie sie in ihren Texten trotzdem zu einer funktionierenden Dramaturgie kommt. Kirsten Boie haben wir gefragt, ob sie uns etwas über das Schneidern nach Maß schreiben kann. »Warum gerade ich«, hat sie gesagt – und dann doch geantwortet. Susan Kreller schließlich sucht den sprichwörtlichen roten Faden auf unterschiedlichen Ebenen in der Literatur.
Dem sind auch Peter Rinnerthaler und Bettina Deutsch-Dabernig in ihrer Diskussion auf der Spur, reden aber über den Sonderfall Sachbuch. Der Frage, was ein Sachbuch zusammenhält, wie die Erzählung darin geordnet ist, widmet sich auch Marlene Zöhrer in der neuesten Ausgabe ihrer Serie »Zur Sache«. Zur Abrundung gibt es noch einen Kommentar zum Handel mit Stoffen: Wir haben die Buchhändlerin Sandra Rudel gefragt, was sie vom Mittelmaß hält, von der Literatur von der Stange.
Mit dem Stoff, aus dem die Kleider sind, setzt sich Christina Pfeiffer-Ulm auseinander. Sie schaut, was passiert, wenn er wegbleibt: Überraschend, wie viel Nackte es in der KJL auch jenseits des bekannten Kaisers gibt. Ob ganz in Pink eine Alternative dazu ist und was es heißen kann, wenn man diese Farbe trägt, auf dem Cover etwa oder auf dem Kopf, weiß Jana Sommeregger.
Die dritte Abteilung betrifft den Stoff, auf dem und mit dem gearbeitet wird. Dazu gehören das Gespräch, das Silke Rabus mit der Buchkünstlerin Michaela Weiss geführt hat, die Liebeserklärung Heinz Janischs an das Notizbuch und Ingrid Tomkowiaks Essay über die Materialität und ihre Bedeutung im Animationsfilm. In der Änderungsschneiderei schließlich sitzen Rolf Erdorf, der anschaulich zeigt, wie schwer das Übersetzen von Lyrik ist. Und Elisabeth von Leon, die unter dem Titel »Tapetenwechsel« die unterschiedlichen Formen der Umarbeitung von Büchern zu Filmen analysiert.
Mit den Besprechungen von zwei zeitlosen Sommerbüchern startet der Rezensionsteil, in dem noch zahlreiche Bücher aus dem Herbst 2017 diskutiert werden, obwohl die Frühjahrstitel schon auf den Tischen liegen. Wir bremsen also, verlängern die Aufmerksamkeitsspanne für Bücher in dieser schnelllebigen Zeit. Sicher finden Sie darunter geeignete Titel für Ihre eigene Lektüre und für jene LeserInnen, für deren Lesestoff sie mitverantwortlich sind.
Besonders freuen wir uns, dass wir an »1001 Buch« etwas angenäht haben. Die digitale Version, die unseren AbonnentInnen seit Anfang 2017 über ihren Online-Zugang zur Verfügung steht, versorgt Sie ab nun mit zusätzlichen Materialien zum jeweiligen Heft. Buchlisten, Buch- und Webtipps oder Hinweise für die Praxis machen »1001 Buch digital plus« jetzt noch bunter und dichter. Zum Start gibt es zusätzlich ein umfangreiches Dossier zum Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Wien 2017! Melden Sie sich unter www.1001buch.at an und und loggen Sie sich ein!
Viel Lesestoff haben wir also gesammelt – und hoffen, dass auch für Ihren Geschmack etwas dabei ist.
Franz Lettner
Maßgeschneidert
Kirsten Boie über die Herausforderung, Geschichten, Stoffe, Themen, Motive für Leser einer jeweils bestimmten Altersgruppe zu erzählen.
Auf die Frage, ob ich einen Beitrag verfassen könnte über die Herausforderung eines Erzählens über vorgegebene Themen in bestimmten Formaten für Leser einer bestimmten Altersgruppe, war meine erste Reaktion: Ich bin die Falsche für diesen Text. Weil: Genau das mache ich ja nicht. Ich schneidere ja nicht nach Maß. Ich kann nicht gut nach Vorgaben schreiben, schon gar nicht, was die Themen betrifft. (Und das meine ich auch durchaus kritisch: Es kann durchaus sein, dass ich ein bestimmtes Thema für wichtig halte – und trotzdem kein Buch dazu zustande bekomme.) Andererseits: Für die unterschiedlichen Formate gilt das nicht im gleichen Maß: Die Zahl meiner Erstlesebücher für verschiedene Lesestufen, geschrieben auf der Basis zum Teil rigider Vorgaben (jede Zeile ein Sinnschritt, nicht mehr als vier bis sechs Wörter pro Zeile, nicht mehr als zwei bis sieben Buchstaben pro Wort, maximal sechs Zeilen pro Seite, maximal fünfunddreißig Seiten), ist ja doch groß. Wenn das nicht maßgeschneidert ist, zumindest formal, was dann? Ich habe dann also doch zugesagt, in einem Aufsatz zumindest die Frage zu beantworten, wie bei mir Thema, Geschichte, Form, Sprache einerseits und Zielgruppenvorstellung andererseits zusammenkommen.
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Nackt
Christina Pfeiffer-Ulm über den fehlenden Stoff in der Kinder- und Jugendliteratur
Bevor wir uns fragen, warum sich Figuren ausziehen, sollten wir uns die Frage stellen: Warum haben sie überhaupt etwas an?
Feigenblatt … Rekapitulieren wir noch einmal die Sache mit dem Sündenfall: Garten, Adam, Eva, Baum, Schlange, Verführung, Erkenntnis – "Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren." (Gen 3,7) – Feigenblatt.
Die Paradiesgeschichte hat als eine der wirkungsmächtigsten Erzählungen der Menschheit auch Eingang in Kinder- und Jugendbücher gefunden. Wie darin mit der natürlichen Nacktheit Adams und Evas umgegangen wird, ist unterschiedlich – was die Qualität und den Mut der künstlerischen Darstellung betrifft. In Kinderbibeln sind die Genitalien wahlweise verdeckt, bekleidet oder ausgeschnitten. Auch Lisbeth Zwerger (zu deren Bildern eine zurückgenommen Aktualisierung des Bibeltextes von Heinz Janisch gestellt ist) geht in "Geschichten aus der Bibel" kein Wagnis ein und schneidet das Bild auf Hüfthöhe des Paares ab.
Noch mehr Nackte finden Sie im Beitrag in voller Länge in 1001 Buch 1|18.
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