Liebe Leserinnen und Leser,
"Lebensgeschichtliche Erzählungen gehören zu den fundierenden Narrativen unserer Kultur. Sie sind Teil der Arbeit am Ich und dokumentieren Vorstellungen vom Selbst. (Anja Tippner & Christopher F. Laferl (Hg.): Texte zur Theorie der Biographie und Autobiographie, Reclam 2016.) Kein Wunder, dass sie auch in Buchregalen in unterschiedlichsten Formen zu finden sind: als Memoiren, Autobiographien oder biographische Romane, als Graphic Novels oder Entwicklungsromane, Tagebücher oder Briefwechsel. All diese Texte haben – unabhängig davon, von wem und für wen sie geschrieben sind – (selbst)darstellenden, ordnenden und Sinn stiftenden Charakter und bewegen sich irgendwo zwischen Faktualität und Fiktionalität, Aufzeichnung und Kunst. Gibt es aber, könnte man fragen, einen Unterschied zwischen einem Text, der explizit (alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind unbeabsichtigt …) vorgibt, fiktional zu sein, und anderen, in denen der Name des Ich-Erzählers auch der Geburtsname des Autors ist oder die gezeichnete Hauptfigur der Autorin täuschend ähnlich sieht? Ist die eine Geschichte "nur" ausgedacht und die andere wahr, die eine authentisch, die andere originell? Und macht das einen Unterschied für die LeserInnen?
Wir beginnen bei den Antworten in der "wirklichen Wirklichkeit". Für heutige Kinder und Jugendliche sind Offline- und Onlineerfahrungen auf eine Art verbunden, wie Menschen, die in das digitale Zeitalter hineingewachsen und nicht hineingeboren sind, sich das nur schwer vorstellen können. Auch wenn sie entspannt mit digitalen Medien umgehen. Beate Großegger vom Institut für Jugendkulturforschung beschreibt in ihrem Beitrag, was die Durchdringung des Lebens durch Social Media für die jugendliche Weltwahrnehmung bedeutet. Welche Konsequenzen es für Jugendliche und die Entwicklung ihrer personalen und sozialen Identität hat, dass das Internet zum Ort geworden ist, wo ICH sehe und gesehen werde.
Danach geht die Literatur- und Bibliothekswissenschafterin Birgit Dankert in ihrem historischen Abriss der literarischen Gattung Biographie der Frage nach, auf welche Bedürfnisse »das Biographische« reagiert, welche Zeitfragen eine Biographie aufnimmt und welche Wirkung sie erreichen will. Simone Kremsberger schließt nach der Lektüre neuer Kinderbücher über Biographien von Frauen mit der Aufforderung, unsere eigene Biografie mutig zu gestalten. Nicht die schlechteste Wirkung.
Die darauffolgenden Beiträge widmen sich lebensgeschichtlichen Erzählungen in der Verschränkung von Texten und Bildern: Christina Pfeiffer-Ulm schreibt über den französischen Illustrator Benjamin Lacombe, der in seinen Bilderbüchern nicht nur Figuren wie den Golem, Madame Butterfly oder Schneewittchen porträtiert hat, sondern auch Marie Antoinette oder Frida Kahlo.
Wie kann ICH mich selbst ins Bild setzen? Das ist eine der Fragen, die Martin Reiterer in seiner Skizze der Entwicklung autobiographischer Comics gestellt hat, die vom stilprägenden Album »Binky Brown meets the Holy Virgin Mary« von Justin Green aus dem Jahr 1972 bis zu den Arbeiten gegenwärtiger Künstlerinnen wie Birgit Weyhe, Magdalena Kaszuba oder der Österreicherin Regina Hofer reicht. Reinhard Kleist ist nicht dabei, hat er doch (noch) keinen autobiographischen Comic vorgelegt. Aber seine biographischen Arbeiten über die Musiker Johnny Cash und Nick Cave oder die Läuferin Samia Yusuf Omar wurden mehrfach ausgezeichnet. Peter Rinnerthaler hat mit ihm über das Aufzeichnen des Lebens anderer Leute gesprochen.
Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte, hat es geheißen, als Bilder, zumal Fotografien, in Bezug auf ihren Wahrheitsgehalt noch außer Frage standen, etwa als Beweis eines früheren Lebens als Superheld galten. Silke Rabus hat sich auf die Suche nach Fotos gemacht, die in Bilderbuchillustrationen eingebaut werden – und beschreibt ihre Funktion.
Wer bin ich – und warum bin ich, wie ich bin? Diese Fragen wurden und werden immer wieder auch in Jugendromanen erzählerisch ausgelotet. Häufig berichten darin Ich-ErzählerInnen über ihre Suchbewegungen. Dass diese Form viele Varianten kennt, zeigen Daniela A. Frickel und Thomas Mayerhofer exemplarisch. Stefanie Höfler wiederum hat sich zusammen mit den Hauptfiguren ihrer hochgelobten Bücher "Mucks" und "Tanz der Tiefseequalle" an einen Tisch imaginiert und mit ihnen geplaudert – über ihren Charakter, und was die Autorin damit zu tun hat. Auch Nils Mohl hat eine seiner Figuren getroffen – in Person jenes Schauspielers, der den Protagonisten seines Romans "Es war einmal Indianerland" in dessen Verfilmung spielt. Der Hamburger Autor berichtet über das Treffen und die Begleitumstände der Transformation seiner Figuren raus aus dem Buch hinauf auf die Leinwand.
Ausgezeichnete Persönlichkeiten runden das Thema ab: Ein Gespräch mit dem Lyriker Arne Rautenberg, dem ersten Preisträger des Josef Guggenmos-Preises. Sowie Lobreden auf jene Bücher, die mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2018 ausgezeichnet wurden. Wir gratulieren allen PreisträgerInnen – auch jenen AutorInnen, IllustratorInnen und VerlegerInnen, die hinter den zehn Büchern stehen, die in die Kollektion zum Preis aufgenommen wurden. Auf der 2. Umschlagseite finden Sie alle Titel zusammengestellt.
Der Buchbesprechungsteil ist diesmal etwas schmaler ausgefallen, eine Folge des übergroßen EGOs des Themas, das im Magazinteil mehr Platz als üblich gefordert hat. Und dem alle gefolgt sind, schon von der 1002. Seite an, die – wunderschön zart und klug – von Julie Völk stammt, deren neues Buch auf S. 56 besprochen wird. Mehr Rezensionen wieder in Ausgabe 3|18. Und mehr Stoff auch in "1001 Buch digital plus", klicken Sie sich rein.
Franz Lettner
Mein gezeichnetes Ich
Martin Reiterer über autobiografische Comics
Autobiografische Comics haben das Medium in den letzten Jahrzehnten geprägt wie kaum ein anderes Genre. Eine wachsende Zahl autobiografischer Comics ist auch im deutschsprachigen Raum unübersehbar. Doch hat der Einzug des autobiografischen Ichs ins Medium Comic vergleichsweise spät stattgefunden. Er wird mit dem Erscheinen von Justin Greens "Binky Brown meets the Holy Virgin Mary" im Jahr 1972 verknüpft. Und war so fulminant, schockierend und explosiv, dass sein Nachbeben und Nachwirken auch heute noch deutlich spürbar sind. Radikalität war offenbar nötig, um die Vorherrschaft der Superheldencomics zu brechen.
Der bis heute noch nicht ins Deutsche übersetzte 40 Seiten starke, hochformatige Comic wendet sich gleich zu Beginn an seine Leser*innen: Die »Binky Brown«-Geschichte sei nämlich nicht »solely to your entertainment« verfasst, sondern sie verfolge auch den therapeutischen Zweck, den Zeichner selbst von seinen Zwangsneurosen zu heilen, die ihn seit Verlassen der katholischen Kirche plagen.
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Den gesamten Beitrag lesen Sie in 1001 Buch 2|18.
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»Duhuu? Hast du mich lieb?«
Christina Pfeiffer-Ulm über das ausgezeichnete Bilderbuch von Gabi Kreslehner und Verena Ballhaus
»Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?«
Ja
Nein
Vielleicht
Eine ziemlich geschlossene Frage für einen Bilderbuchbestseller. In jedem Fall eröffnet die Beantwortung des Hasenbilderbuchtitels von Sam McBratney und Anita Jeram kein besonders tiefschürfendes Gespräch. Und überhaupt – was ist das für eine Frage? Wie soll man denn so etwas wissen? Etwas so Abstraktes? Liebe ist ein großes Wort und natürlich arbeitet sich auch die Kinderliteratur daran ab – mit herzigen Geschichten oder abstrakten Metaphern wird versucht, ein überwältigendes Gefühl in Worte zu fassen. Dabei scheint es, als seien entsprechende Bücher primär für ergriffene (Groß-)Eltern geschrieben. Denn einmal ehrlich: Kindern dürfte die exakte Dimension der Liebe relativ egal sein. Weiß du eigentlich, wie lieb ich dich hab? Naja, sehr viel halt?
Naheliegender ist es, die umgekehrte Perspektive einzunehmen. Die der Kinder selbst. Für sie ist die Frage nach der Liebe />…
Mehr über die grundsätzliche Frage "Hast du mich lieb" im Beitrag in voller Länge in 1001 Buch 2|18.
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