Liebe Leserinnen und Leser,
10 Viele Menschen meiner Generation verbinden mit einem Countdown einen Raketenstart, vielleicht sogar den der Raumfahrtmission Apollo 11 am 16. Juli 1969 und den wenige Tage später folgenden kleinen Schritt Neil Armstrongs … In diesem Fall dient das Herabzählen nicht nur einer geordneten Vorbereitung des Abhebens, sondern auch für den Beginn einer vielversprechenden Zukunft der Menschheit und ihres Planeten. Inzwischen ist das Bild der ersten bemannten Mondlandung verblasst und der Optimismus kleiner geworden. Der Countdown wird heute gobal eher mit der Unaufhaltsamkeit der Erderwärmung in Verbindung gebracht als mit dem einem neuen hoffnungsfrohen Zeitalter. Zugleich wird frisch und fröhlich bei viel kleineren Ereignissen heruntergezählt: zu Silvester, zum Anpfiff großer Fußballspiele, an der Fußgängerampel um anzuzeigen, dass das Warten bald ein Ende hat.
9 Was nicht immer positiv sein muss. Davon erzählt eines der bekanntesten Gedichte Ernst Jandls: "fünfter sein" macht nicht nur deutlich, dass ein Countdown dramaturgisch für Spannung sorgt, sondern weist zugleich auf die Ambivalenz dieses zeitlichen Stukurierungsmittels hin. Damit beginnt diese Ausgabe von 1001 und 1 Buch, mit Anna Stemmann, die in "Abzählen, runterzählen, hinerzählen" den Countdown als gestalterisches Element in der Literatur untersucht, seine unterschiedlichen Funktionen und die Folgen für die LeserInnen an konkreten Beispielen erörert und – gefinkelt – den Countdown als Gestaltungsmittel für ihren Text nutzt.
8 Davor aber hat schon Miriam Zedelius auf der 1002. Seite hier nebenan ihr Bild zum Countdown gesetzt. Im Interview weiter hinten erzählt die Illustratorin aus Leipzig, wann und wo ihre Bildideen am liebsten aus ihrem Kopf rauskommen (nein, nicht beim Friseur), wie sie davor aber dort hinein gekommen sind, kann sie leider nicht genau sagen.
7 Dass bei der Konzeption dieser Ausgabe der Begriff Countdown von der Redaktion nicht auf eine hoffnungsvolle Zukunft hin interpretiert, sondern in Richtung einer düsteren herabgezählt wurde – obwohl ein erheblicher Teil der Redaktion eher Apollo 11-Kinder sind –, lässt sich dem Inhaltsverzeichnis ablesen. Trotzdem verzichte ich an dieser Stelle darauf, über den zur Zeit vielfach beschworenen Niedergang der Literatur und die angezählte Buchkultur zu schreiben. Interpretieren Sie das als beredtes Schweigen. Darüberhinaus möchte ich darauf hinweisen, dass an einer Ausgabe von 1001 Buch zum Thema Arbeit im, am und mit dem Buch gearbeitet wird.
6 60 Sekunden zählt mein Computer runter, wenn ich ihm den Befehl gebe, sich auszuschalten. So lange habe ich Zeit, mir noch einmal gut zu überlegen, ob ich unseren aktuellen Kontakt wirklich abrechen will. Alexander Pommer beginnt seinen Beitrag über Computerspiele in der Jugendliteratur mit folgendem Zitat aus Franz Sales Sklenitzkas "Nicht wirklich …": "Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das was zwischen uns war, als Beziehung zu bezeichnen. Eine Beziehung hatte ich zu meinem Computer. Doch zu Vanessa?" Dieser Beziehungsstatus ist Grund genug, den Beitrag zu lesen. Und das Buch.
5 Den Auftakt zum düsteren Teil des Hefts macht Claudia Sackl. Sie zeigt, dass die Dystopie, die seit längerem große Erfolge im Jugendbuch (und Film) feiert, mittlerweile im Bilderbuch angekommen ist und dort vor allem auf der Bildebene ihren starken Ausdruck findet. Auch bei Manuela Kalbermatten spielen Bilder eine zentrale Rolle: Anhand einer Netflix-Serie, zweier Jugendromane und zweier Graphic Novels zeigt sie, wie sich Beziehungen nach der Apokalypse gestalten könnten. Was wird mitgenommen aus der »kalten Welt der Väter«? Wie kommt es zu Verbundenheit und Solidarität, wenn jedeR ums eigene Überleben kämpfen muss? Großes Kino über die Liebe in einer Zeit, in die – wie man manchmal das Gefühl hat – schon heineingezählt wird.
4 Bevor es so weit ist, steht noch der Kampf gegen den »Endboss« an, wie der letzte Gegner einer Abenteuer-Dramaturgie genannt wird. In der Literatur und in Videospielen kann er fast immer besiegt werden. In der Dramaturgie des Lebens heißt er – Tod. Der ist meist das Ergebnis von Amok. Wie er in der Jugendliteratur dargestellt wird, wie das Davor in den Amoklauf mündet und dessen gewöhnlich unglaublich kurze Zeit in Text und Bild verdichtet wird, zeigt Heidi Lexe ebenfalls anhand aktueller Beispiele aus Literatur, Graphic Novel und Film.
3 Aus. Ende. Schluss. Klaus Nowak hat die letzten Worte und bringt mit ihnen letzte Sätze zu Gehör.
2 Danach geht bei Peter Rinnerthaler alles wieder von vorne los! Und zwar mit und in jenen Bilderbüchern, die ihre LeserInnen dazu bringen (wollen), am Ende der Lektüre wieder vorne zu beginnen. Bei ihm hat es geklappt.
1 Ausgesprochen umfangreich ist der Besprechungsteil: Unterhaltsame und kluge Bücher, die in die Bibliothek, die Schule, zu den LeserInnen gehören, zeitlose wie Jean Websters »Lieber Feind«, ungewöhnliche, die Alltag und Poesie zusammenbringen, Comics, die Sachwissen vermitteln, Sachbücher, die zum Mitmachen animieren, oder Graphic Novels, die mit einer überwältigenden Bildsprache aufwarten. Immer noch werden tolle Bücher erzählt, illustriert, publiziert.
Go Und gelesen.
Franz Lettner
Von der Liebe in der Endzeit
Ein Streifzug durch den Beziehungskosmos der Apokalypse von Manuela Kalbermatten
Bekifft lässt sich das Ende der Welt entspannt verschlafen. Als der einsame Patrick nach einer vernebelten Auszeit aus seinem Auto steigt, liegt der Strand vor ihm voller Leichen. Und auch vom Augen-Zukneifen-und-wieder-Aufreißen geht das Schreckbild nicht weg: Ein über den Regen verbreiteter Virus hat den Großteil der dänischen Bevölkerung ausgelöscht.1 Für einmal gehört zu den Verlierern, wer es auch ohne Drogen lustig haben konnte.
Katastrophe Zivilisation. Unter dem Strich kommt es für Patrick dagegen recht gut heraus. Zu Bildungsverlierern, Mauerblümchen, Parias und Nerds ist die Postapokalypse in der dänischen Netflix-Serie »The Rain« nämlich ein ganzes Stück netter, als es die vermeintlich wohlgeordnete Zivilisation je war. Das erlebt so auch Lea, die zum kritischen Zeitpunkt gerade durch die Hölle geht: Ein unsicheres, von der fundamentalchristlichen Mutter aus dem sozialen Leben weggesperrtes Mädchen, wird sie auf einer hart erkämpften Party von ihren Peers in einen Drogenrausch versetzt. Ihre dadurch ausgelösten ›sexuellen Eskapaden‹ – bei denen es sich natürlich um nichts anderes als um ihre Vergewaltigung handelt – landen unverzüglich auf Social Media.2 Die fragile Existenz der jungen Frau scheint endgültig zerstört; Lea steht als im doppelten Sinne ernüchtertes, schluchzendes Häuflein Elend am Fenster und schaut aus verquollenen Augen auf ihre hohnlachenden Peiniger_innen im Garten; es bricht einem das Herz. Die Katastrophe aber schafft auf rabiate Weise Gerechtigkeit. Einer nach dem anderen sterben Leas grausame Kolleg_innen im plötzlichen Regen einen qualvollen Tod. Und Lea schaut wie vom Donner gerührt zu.
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Sechs Minuten und zwanzig Sekunden
Der Amok und die Jugendliteratur. Von Heidi Lexe
"Fight for your lives before it’s someone else’s job."
Mit dieser zornigen Aufforderung wird Emma Gonzáles zur Leitfigur einer nach dem Amoklauf in Parkland/Florida spontan entstandenen zivilgesellschaftlichen Protestbewegung. Als couragierte Überlebende des 14. Februars 2018 ergreift die Jugendliche bei Demonstrationen und in Talkshows das Wort gegen Waffengewalt. Denn auch wenn der Psychiater und Psychotherapeut Peter Langman festhält, dass Schulamokläufe sich nicht allein durch eine spezifische "Waffenkultur" erklären lassen(1), so gehört die "Verfügbarkeit"(2) von Waffen doch wesentlich zum Kontext eines Amoklaufes; die in den USA wiederum durch den verfassungsrechtlich geschützten Privatbesitz von Handfeuerwaffen und halbautomatischen Waffen befördert wird.
Als bisheriger Höhepunkt des "March for Our Lives" gelten die landesweiten Protestaktionen vom 24. März 2018. In Washington setzt Emma Gonzáles die zehntausenden Teilnehmer_innen dabei gezielter Irritation aus: Nach etwas mehr als 2 Minuten überführt sie ihre Rede in Schweigen. Erst nach 6 Minuten und 20 Sekunden Präsenz auf dem Podium ergreift sie wieder das Wort und markiert damit jene Zeiteinheit, in der der 19-jährige Nikolas Cruz in seiner ehemaligen High School 17 Menschen tötet, 15 verletzt und das Leben aller anderen für immer verändert ("everyone was forever altered"(3). Das Spannungsmoment, das aus dem Unverhältnis zwischen dieser erschreckend kurzen Zeitspanne und den daraus entstehenden Bruchlinien im Leben der (überlebenden) Jugendlichen resultiert, wird auch in literarischen Annäherungen an Ausnahmephänome wie Schul-Amokläufe oder Attentate zur einer dramaturgischen Konstante. >…
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