Liebe Leserinnen und Leser,
als die Redaktion den Ausflug in den Wald konzipiert hat und die BeiträgerInnen an ihren Texten und Bildern gearbeitet haben, hatte sich keine*r denken können, dass man wenig später den Wald bestenfalls allein betreten wird dürfen oder mit den Menschen, mit denen man auch in den eigenen vier Wänden zusammenlebt. Innerhalb weniger Wochen hat ein Virus dafür gesorgt, dass sich weltweit mehr als nur der Bewegungsspielraum der Menschen verändert hat. Jeder Lebensbereich, also auch die Buchbranche, war und ist davon betroffen, die Arbeit von Autor*innen und Illustrator*innen, Verlagen und des Buchhandels, von Bibliotheken und allen anderen Formen der Literaturvermittlung, nicht zuletzt der Schulen und Universitäten. Ich muss Ihnen diesbezüglich nichts erzählen, von kaum etwas anderem war in den letzten Monaten die Rede. Und auch wenn hier und da schon eine »neue Normalität« proklamiert wurde, wird es noch lange nicht selbstverständlich sein, einander möglichst nicht zu berühren, Masken zu tragen, sich zu distanzieren.
1001 Buch ist ein Magazin, das sich infolge seines quartalsweisen Erscheinens sowie seiner langsamen Produktionsweise nicht mit tagesaktuellen Fragen auseinandersetzt. Die Redaktion diskutiert jeweils im Herbst eines Jahres die Themen des nächsten Jahrgangs. Das Gegenwärtige – die aktuelle Literatur, die Bewegungen auf dem Buchmarkt, der Zeitgeist – spielt dabei eine Rolle. Aber die Auswahl der Themen ist eher nicht einem jeweils gerade aktuellen Trend geschuldet und die Zusammensetzung der Hefte immer der Versuch, über den – auch zeitlichen – Tellerrand zu schauen. Das hat zur Folge, dass Ausgaben von 1001 Buch Zeitgenossenschaft ausstrahlen, aber nie brandaktuell sind. Dem entspricht auch diese Kolumne hier. In ihr kommentiere ich üblicherweise nicht, was in der Branche oder der Welt vorgeht, sondern erkläre, wie sich die Redaktion das Heft – Monate bis ein Jahr zuvor – gedacht hat und welche Geschichte die gesammelten Beiträge tatsächlich erzählen. Für die vorliegende Ausgabe wurde eine Art Landkarte des kinder- und jugendliterarischen Waldes gezeichnet: Eingetragen wurden der Märchen- und der Wienerwald, ein Nebel- und ein Blätterwald, der phantastische, dystopische und der biblische Wald; mit dabei waren abgeschiedene, verbotene und laute Nischen, sowie jene Orte, an denen Eingeweihte immer Schwammerl finden. In unserem Wald haben sich Räuberinnen und Räuber versteckt, zwischen den Bäumen sind viele Kinder und einige Rehe aufgetaucht und sogar ein paar Männer in rotkarierten Hemden. Sämtliche Teile dieses Waldes haben wir – wild aber nicht gedankenlos – ausgesuchten Beiträger*innen zugeteilt. Das war das Konzept: Keine systematische und exakte Vermessung des Lebens-, Wirtschafts- und Sehnsuchtsraums Wald also und seiner Bedeutung als literarischer Schauplatz, sondern ein auf- und anregender Waldspaziergang – inklusive kleinerer Umwege.
Der Redaktionsschluss der Ausgabe fiel in etwa mit dem Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkung in Österreich am 15. März zusammen, der reale Wald war auf einmal gespenstisch weit weg – jedenfalls für Menschen, die wie ich mitten in Wien wohnen. Und was war mit dem Wald, der sich langsam hier im Heft ausbreitete, das zur Gänze in Heimarbeit produziert wurde? Er entsprach zwar der Idee, aus der heraus er entstanden war. Wirkte aber jetzt fast fremd auf mich. Unser Blick auf den Wald, das wurde überdeutlich, wird nach wie vor dominiert von einem Narrativ, das in der Deutschen Romantik ausgebildet wurde: Der Wald ist ein Sehnsuchtsort, in dem man sich zwar verirren oder in Gefahr kommen kann, aber letztendlich und auf lange Sicht ist er imaginierte Zuflucht und Zukunft. Gebrochen wird dieses Bild des Waldes, der Rettung ist (und auch deshalb gerettet werden muss), durch die Zeichnung von Tino Erben hier links von mir. Sein Wald, über den unromantisch und sehr gegenwärtig ein Hubschrauber kreist, scheint keinen Schutz vor was auch immer zu bieten, sondern eher Ungeheuer zu gebären.
Ich bin neugierig, wie die vorliegende Vermessung des Waldes in der Gegenwart der »neuen Normalität« auf Sie wirkt. Über Rückmeldungen freue ich mich.
Wie und wann es derweil mit der Literaturvermittlung im wirklichen Leben weitergehen wird, mit Lesungen oder Workshops, ist noch ungewiss. Man wird sehen, ob etwa die Verleihung des Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2020, die im Mai in Eisenstadt stattfinden hätte sollen, im Oktober über die Bühne gehen kann, wie jetzt avisiert. Unter www.lesefest.at wird man nicht nur darüber auf dem Laufenden gehalten, sondern findet auch Informationen über die ausgezeichneten Bücher von Frauke Angel und Julia Dürr, Leonora Leitl, Agnes Ofner, Hannes Wirlinger und Ulrike Möltgen. Ich gratuliere ihnen und ihren Verlagen herzlich. Allen Preisbüchern sind auch Beiträge gewidmet, die zumindest zum Teil wiederum mit Wald zu tun haben. Für die Neuerscheinungen dieses Frühjahrs und ihre Urheber*innen und Verlage war es schwer, ein Publikum zu finden. Ich möchte daher nachdrücklich auf die Besprechungen in dieser Ausgabe hinweisen. Die Bücher verdienen es, wahrgenommen werden. Wie auch die ergänzenden Beiträge und Materialien in 1001 Buch digital plus. Unter anderem versammeln sich dort die gefährlichsten Räuber*innen der Kinderliteratur.
Bleibt mir noch, Ihnen einen guten Sommer zu wünschen. Bleiben Sie uns gewogen. Und bleiben Sie gesund. Waldspaziergänge sind dem bestimmt förderlich.
Franz Lettner
Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Alaska, Nini: Haiferien S. 51
Alemagna, Beatrice: Das wundervolle Fluffipuff S. 52
Baron, Adam: Freischwimmen S. 64
Boie, Kirsten: Das Lesen und ich S. 71
Bongard, Katrin: Es war die Nachtigall S. 46
Borinski, Ulrike & Rudolf Paulus Gorbach (Hg.): Lesbar S. 71
Davies, Benji: Quappi S. 50
Dobell, Darcy & Becky Thorns (Ill.): Die Welt der Wale S. 69
Duda, Christian: Milchgesicht S. 66
Engstrand, Maria: Code Orestes – Das auserwählte Kind S. 63
Foxlee, Karen: Alles, was wir träumten S. 59
George, Patrick: Rettet die Erde! S. 70
Gratz, Alan: Vor uns das Meer S. 61
Hawkins, Emily & Lucy Letherland (Ill.): Der Atlas der Ozeane S. 69
Helmig, Alexandra & Stefanie Harjes: Der Stein und das Meer S. 65
Hesse, Lena: Hallo, ist hier hinten? S. 63
Höller, Kristin: Schöner als überall S. 62
Jäger, Sarah: Nach vorn, nach Süden S. 56
Janisch, Heinz & Maja Kastelic (Ill.): Hans Christian Andersen S. 51
Jeffers, Oliver: Die Fabel von Fausto S. 57
Kaster, Armin: Der Himmel hat seine Vögel genommen und ist gegangen S. 61
Kelly, Erin Entrada: Charlotte & Ben S. 59
Kienle, Dela & Jochen Windecker (Ill.): Umweltschutz S. 70
Kucharska, Nikola: Ausgestorben. S. 67
Lagercrantz, Rose & Eva Eriksson (Ill.): So glücklich wie noch nie? S. 65
Lange, Erin Jade: Firewall S. 60
Lévy, Didier & Katrin Stangl (Ill.): Als die wilden Tiere bei uns einzogen S. 57
Love, Jessica: Julian ist eine Meerjungfrau S. 49
Mahne, Nicole: Mia und die aus der 19 S. 58
Näger, Sylvia: Lesekultur in der Krippe S. 71
Oftring, Bärbel & Jochen Windecker (Ill.): Insekten S. 67
Orghandl, Franz: Der Katze ist es ganz egal S. 58
Orths, Markus: Luftpiraten S. 64
Pin, Isabel: Rosie auf dem Baum S. 50
Reynolds, Jason: Brüder. Mutig wie wir S. 60
Rosoff, Meg: Glück für alle Felle / Ferien für alle Felle S. 44
Schäuble, Martin: Sein Reich S. 46
Schmid, Jonas: Die Leiden der jungen Tellianer S. 56
Stark, Ulf: Als ich die Pflaumen des Riesen klaute S. 53
Steinlein, Christina & Mieke Scheier (Ill.): Ohne Wasser geht nichts! S. 68
ter Horst, Marc & Wendy Panders (Ill.): Palmen am Nordpol S. 70
Thydell, Johanna & Emma Adbåge: Blödes Bild S. 49
Travnicek, Cornelia: Feenstaub S. 62
Tsuge, Yoshiharu: Rote Blüten S. 66
Vieweg, Olivia & Sophokles: Antigone S. 48
van de Vendel. Edward & Marije Tolman (Ill.): Der kleine Fuchs S. 54
Weber, Susanne: Land unter … bei Samuel S. 52
Wolfsgruber, Linda: Die kleine Waldfibel S. 16
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