Liebe Leserinnen und Leser,
wild ist ein Wort, über dessen Grundbedeutung, wie es im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm heißt, »sich so wenig sicheres sagen [läszt] wie über die herkunft«. Schon im Althochdeutschen wird es auf Personen, Tiere, Pflanzen und Örtlichkeiten angewandt, »rasch mehren sich aber die fälle übertragener verwendung, in denen das wort mehr und mehr eine erstaunliche vielseitigkeit entfaltet.« Und auch wenn es ab der Mitte des 18. Jahrhunderts Einschränkungen gibt in Bezug auf den Gebrauchsumfang und sich der Gefühlswert zunehmend hin zum Negativen verändert, bleibt »das warmblütige und nach allen möglichen richtungen dehnbare wort« – wild. Das ist Grund genug, ihm eine Ausgabe von 1001 Buch zu widmen, über wilde Menschen, Tiere, Pflanzen und Orte nachzudenken, dabei in unterschiedliche Richtungen zu schauen.
Es beginnt mit einem wilden Tier. Jacky Gleich macht hier nebenan auf der 1002. Seite die vielleicht grundlegendste Bedeutung des Wortes wild anschaulich: Wie die Hauskatze, die immerhin als eines der eigenwilligsten Haustiere gilt, gehört der Luchs zur Unterfamilie der Kleinkatzen. Das eine Tier ist wild, das andere gezähmt vom Menschen, der wiederum eine unerwartete Begegnung mit dem Wilden als beglückend empfindet. Nach dieser ersten Szene, die schon auf die ambivalente Bedeutung des Wilden verweist, folgt ein Essay über die vielleicht wildeste literarische Form: den Abenteuerroman (alles: wilde Personen, Tiere, Pflanzen und Örtlichkeiten!). Was macht eine Geschichte abenteuerlich und einen Protagonisten zu einem Abenteurer – und kann es auch eine Protagonistin sein? Christine Lötscher zeigt, wie sich eine Gattung mit langer Tradition und einem Höhepunkt im 19. Jahrhundert in der Gegenwart neu positioniert. Zumindest nahe an der Abenteuerliteratur dran sind auch Romane und Erzählungen über Kinder, die am Rand oder jenseits der Zivilisation aufwachsen. Wir machen den ersten Richtungswechsel: Heidi Lexe folgt in ihrem Beitrag über das Motiv des »Wilden Kindes« nicht jenen, die aus einem sicheren Leben kommend das Abenteuer in noch nicht kartografierten, gefährlichen Räumen suchen, sondern ist Kindern auf der Spur, die in der Wildnis aufwachsen. Und in der Zivilisation keine richtige Heimat finden.
Die Wildnis ist unberechenbar, eines aber ist sicher: Es gibt dort wilde Kreaturen. Wie man sie zähmt, recherchiert Kathrin Wexberg. Und trifft dabei auf wilde Figuren (Personen? Tiere?), denen auch Silke Rabus begegnet. Auf der Suche nach wilden Bildern strandet sie wenig überraschend auf Inseln, auf denen niemand haust – oder maximal ein paar wilde Kerle. Dass scheinbar weit entfernte Eiländer schneller zu erreichen sind, als erwachsene Vielflieger meinen, wundert jene nicht, die wissen: »Die wahren Abenteuer sind im Kopf, und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.« (André Heller). Damit lassen wir die klassischen Abenteuerzonen hinter uns. Immerhin ist auch Silke Rabus bei ihrer Suche dort gelandet, wo man die Bilderbuch-Wildnis eher nicht vermutet hätte: im Vorgarten eines kleinen Häuschens, dessen Bewohner*innen wild nur im Versuch sind, jeden Wildwuchs zu verhindern. Wildromantisch ist woanders. Dort nämlich, wo Ausflügler hinwollen, wie Abenteurer*innen genannt werden, die ihre Lieblingsplätze oder Rückzugsorte per pedes oder auf dem Fahrrad erreichen können. Andrea Kromoser folgt diesen Naturkindern – und muss dabei keine großen Entfernungen zurücklegen.
Wir lassen sie in Ruhe und gehen in die andere Richtung, zurück in die Stadt. Die ursprünglich das exakte Gegenteil von Wildnis ist, nämlich Schutz vor ihr: Sicherer Lebensort von Menschen, Knotenpunkt von Verkehrsadern, Zentrum von Wirtschaft, Verwaltung, Kultur. Dann aber, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, verwildert dieser Lebensraum zusehends – zumindest metaphorisch. Im frühen 20. Jahrhundert droht Franz Biberkopf im Moloch Berlin verloren zu gehen, knapp 50 Jahre später irrt Holden Caulfield durch den Asphalt-Dschungel Manhattans. Dass auch der urbane Raum der Gegenwart gut als wilder Schauplatz taugt, zeigt Anna Stemmann, die orientierungslose jugendliche Wegsuchende quer durch die Stadt begleitet. Wer es gern gemütlicher hat und auf der sicheren Seite sein will, folgt der Reisegruppe, die von Peter Rinnerthaler durch Illustropolis geführt wird, DIE Bilderbuchstadt schlechthin: Lärm und Trubel, jede Menge Sehenswürdigkeiten, architektonische und kulinarische Highlights, aber auch Wohlfühloasen und ein bisschen Grüngrün, für das eine kleine Guerilla-Gärtnerin verantwortlich ist, die nach getaner Arbeit vielleicht auf einen Baum verschwindet wie einst Italo Calvinos berühmter Baron. Figuren, die auf Bäume kraxeln, stehen auch im Zentrum von Klaus Nowaks literarischem Rätsel für Belesene. (Wer eine Auflösung braucht, kann sie weiter unten hier auf der Website nachlesen.)
Bleibt noch ein Beitrag über Lektoratsarbeit. Sie fragen sich vielleicht, was an dieser Tätigkeit wild sein soll. Nichts, eigentlich, im Gegenteil, wie Natalie Tornai schreibt. Mein ursprüngliches Bild einer Gärtnerin, die die Textwildnis einer Autorin oder eines Autors zurechtstutzt, mit großer Schere womöglich, hat die erfahrene Lektorin freundlich aber entschieden verändert und durch jenes vom gemeinsamen Schürfen im Textbergwerk ersetzt. Und gibt damit einen schönen Einblick in einen diskreten und weitgehend verborgenen Aufgabenbereich der Buchbranche.
Sie sehen: Viele wilde Menschen, Tiere, Pflanzen und Örtlichkeiten in dieser Ausgabe von 1001 Buch. Und noch viel mehr von all dem in der wilden Mischung an Neuerscheinungen, die wir für Sie gelesen haben.
In der nächsten Ausgabe, die im Mai erscheinen wird, gibt es dann einiges zu lachen. Das haben wir alle nötig.
Bis dahin: Bleiben Sie uns gewogen.
Franz Lettner
Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Aakeson & Bregnhøi (Ill.): Hugo & Hassan S. 64
Applegate: Endling. S. 56
Bagieu: California Dreamin’ S. 68
Beauchesne & Chappell (Ill.): Anton, das Bison S. 42
Black: Coldtown S. 60
Boyne: Mein Bruder heißt Jessica S. 50
Bushnell & Cotugno: Rules for Being a Girl S. 51
Cali & Quarello (Ill.): Sie nannten uns die Müll-Kids S. 62
Cameron: Das Mädchen, das ein Stück Welt rettete S. 50
Canzales: Hübsch! S. 37
Cole & Vidal (Ill.): Jäger in der Tiefe S. 58
Damm Füchslein in der Kiste S. 46
Drust & Engelke: Das EI von AUA S. 41
Ende: Treiben lassen S. 65
Elsäßer: Play S. 52
Forsythe: Pokko und die Trommel S. 35
Frey & Rappo (Ill.): Ginting und Ganteng S. 44
Futscher & Schöbitz (Ill.): Gute Reise, Eierspeise S. 63
Gmehling: Nächste Runde S. 43
Freytag: Das Gegenteil von Hasen S. 61
Große Weltklassiker der britischen Literatur S. 34
Gutzschhahn: Mäusekino S. 63
Harari & Casanave (Ill.) & Vandermeulen (Szen.): Sapiens S. 68
Henhapl & Klever: Ich bin Tiere S. 35
Herwig : Scherbenhelden S. 52
Höfler & Weikert (Ill..): Waldtage! S. 36
Horvath: Super reich S. 62
Hunt: Wie man den Wind aufhält S. 51
Iwasa & Mühle (Ill.): Viele Grüße aus dem Algenwäldchen S. 42
Jonas: Grand Hotel Bellvue S. 37
Keßler: Die Gespenster von Demmin S. 53
Kubiczek: Straße der Jugend S. 52
Laudenberg & Oliver & Wörner (Hrsg.): kinderleicht & lesejung S. 72
Lawrence: Winterpony S. 58
Lewis: Wolfsfreunde S. 49
Meyer: Biss zur Mitternachtssonne S. 60
McCombie & Brett (Ill.): Mein geheimnisvolles Ich S. 58
Munda: Feuererwachen S. 60
Nadareischwili: Tina hat Mut S. 46
Nielsen: Adresse unbekannt S. 49
Nilsson & Spee: Die allerkleinste Polizistin S. 40
Paul & Russo: Lesen macht stark S. 71
Paulsen: Harris und Ich S. 48
Puchner: Mein Kater Tiger S. 36
Raschka: THE WORLD AIN’T ENOUGH … S. 39
Rautenberg & Budde (Il.): kuddelmuddel remmidemmi S. 63
Reviati: Dreimal spucken S. 66
Roeder (Hrsg.): Parole(n) – Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien S. 71
Rundell: Ein unvorstellbar unsinniges Abenteuer S. 55
Schneider & Knödler (Hrsg.) & Goedelt (Ill.): Es flattert und singt S. 63
Schöbitz: Die grauen Riesen S. 47
Sigmarsdóttir: Das dunkle Flüstern der Schneeflocken S. 59
Stark & Crowther: Die Ausreißer S. 48
Stavarič & Schwab (Ill.): Balthasar Blutberg S. 69
Steinhöfel: Rico, Oskar und das Mistverständnis S. 57
Steinmann & Simon (Text) & Braslina (Ill.): Ting! S. 70
Sterer & Di Giorgio (Ill.): Jahrmarkt um Mitternacht S. 38
Tallec: Das ist mein Baum S. 38
Taylor: Malamander S. 55
Thesing: You don’t look gay S. 67
Tordasi: Brombeerfuchs S. 56
Torseter: Ein Mann für alle Fälle S. 54
Viale: Ich bin der König! S. 40
Voisard: Ornithorama S.70
Weing: Die geheimnisvollen Akten von Margo Maloo S. 65
Wendt: Tok-Tok im Eulengrund S. 64
Woltz: Haifischzähne S. 43
Zedelius: Lotte und die Oma-Tage/Lotte und die Freitags-Oma S. 41
Zeise: Das wahre Leben der Bauernhoftiere S. 69
Zuttion: En garde! S. 66
Die Besprechungen können Sie in der Rezensionsdatenbank Rezensionen online open lesen – als Abonnent*in auch direkt hier auf dieser Website