Liebe Leserinnen und Leser,
links auf der 1002. Seite sehen Sie jenes Ungeheuer, das schon auf dem Cover gebrüllt hat, in voller Größe und in Aktion. Die meisten von Ihnen werden sofort erkannt haben, dass Tino Erben eine ikonische Filmszene nachstellt: Auf der Spitze des Empire State Building – 1933 das höchste Gebäude der Welt – wird King Kong, Ann Darrow in der linken Pranke, von einem Geschwader Propellermaschinen angegriffen. Der Film inszeniert ein stilbildendes Monster und demonstriert die Vielschichtigkeit des Monströsen: Außerordentlich ist es, kolossal, furchterregend, faszinierend, eine Projektion wilder, unberechenbarer, gewalttätiger Impulse im Menschen. Dass Monster aber auch menschlich handeln können, wird ebenso deutlich: King Kong bringt die Frau in Sicherheit, bevor er selbst vernichtet wird. Das Monströse ist ein Ergebnis der menschlichen Vorstellungskraft. Es sind immer unsere Monster, die unsere Welt unsicher machen. Was uns an uns nicht passt, projizieren wir auf das Andere, das wir dann verräumen.
Stellt sich die Frage: Was hat das Monströse in der Kinderliteratur verloren? Manche werden an der Wolle von Tino Erbens Monstrum schon dessen Kuschelpotential ablesen. Und also erahnen, dass Monster in Erzählungen für Kinder sogar Identifikationsobjekte und Freunde werden können, Missgestalt hin oder her.
Das Ungeheuerliche unter Kontrolle zu bekommen, ist seit Jahrhunderten Programm. Ein diesbezüglicher Versuch ist die Systematisierung mittels Alphabet. Das zeigt Heidi Lexe, die sich an Hand eines Gedichts durch die Monsterwelt buchstabiert. Dieser Einstieg macht nicht nur die Maßlosigkeit des Monströsen klar, sondern auch die Lust an der Auseinandersetzung mit ihm.
Monster treten in unzähligen Erscheinungsformen auf, sind mit vielfältigen Charaktereigenschaften und Handlungsmustern ausgestattet und haben in vielen Erzähltraditionen Heimat gefunden: In der griechischen oder nordischen Mythologie spielen sie ebenso ihre Rolle wie in Märchen und Sagen, in Reiseberichten oder der Genreliteratur – Horror! – fühlen sie sich so zuhause wie in der Phantastik. Und auch in Bezug auf die Erzählmedien sind sie nicht wählerisch und treten in Buch, Graphic Novel oder Film auf. Alle diese Aspekte werden in den folgenden Beiträgen angesprochen – ein Versuch, das Monströse zu umzingeln.
Über Körpermonster und Sittenmonster, die einen fehlgebildet, die anderen fehlgeleitet, schreibt Julia Boog-Kaminski. Und bringt mit den Wilden Kerlen nicht nur ebenfalls stilbildende Figuren ins Spiel, sondern weist auch darauf hin, dass Maurice Sendaks Monster in der Kinderliteratur die ersten sind, die nicht wie ihre Vorgänger der Abschreckung und Warnung, sondern als Identifikationsfiguren dienen. Und dabei ambivalent bleiben. Das attestiert den Wilden Kerlen auch Simone Weiss, die sich den Kuschelmonstern widmet. Fast durchwegs sind das freundliche Begleiter, nur manchmal noch ein ganz klein wenig monströs. Zwar kann es sein, dass sie früher Kinder gefressen haben, mittlerweile aber ernähren sie sich vegetarisch.
Unter all die Monster sind auch ein paar »böse Kinder« geraten; seit dem 18. Jahrhundert zählen sie zum Figureninventar literarischer Texte. Gabriele von Glasenapp fragt nach ihrer medialen Darstellung und lässt einige Repräsentant*innen vorbeidefilieren. Zuschreibungen, die an jeweils herrschende Normen gebunden sind, spielen auch in den Texten eine Rolle, die Kathrin Wexberg gelesen hat: Menschen werden hier zu Monstern gemacht, weil ihr Körper nicht der Norm entspricht. Sie sind entstellt oder zwei in einer, zu dick oder zu haarig, zu queer, zu alt, zu behindert, nicht normschön jedenfalls. Damit einher geht oft eine gesellschaftliche Abwertung, Benachteiligung und Ausgrenzung. Anhand einiger Beispiele stellt Claudia Sackl das Konzept der »Abjection« vor.
Christina Pfeiffer-Ulm, in 1001 Buch (keinesfalls nur, aber auch) fürs Grobe zuständig, erklärt, was das »Horror«-Genre ausmacht, und fragt, was davon in der Kinderliteratur möglich ist. Ein Horror ist das Leben von Moonbeam und Piper, allerdings in einem anderen Sinn, wenngleich die beiden Protagonistinnen ebenfalls mit Monstern konfrontiert werden. Alexandra Hofer diskutiert zwei Jugendromane, die religiösen Fanatismus thematisieren.
Am Ende landen wir wieder dort, wo wir begonnen haben: beim Versuch, das Monströse unter Kontrolle zu bekommen. Tamara Kurzbauer versucht es mit Empathie. Aus unzähligen Ungeheuern hat sie einige ihrer liebsten ausgewählt, um sie zu verorten und zu beschreiben: den Kobold, die Harpyie oder die Midgardschlange. Marlene Zöhrer schließlich schaut sich in »Zur Sache« an, wie Sachbücher über Monster wissenschaftlich nicht wirklich belegbare Fakten präsentieren als wären sie Tatsachen. Etwa was die Ernährung von Einhörnern betrifft.
Wenn Sie genug von Monstern haben, blättern Sie durch den Besprechungsteil. Dort erfahren Sie, welche Bücher Sie lesen oder jenen Leser*innen, die sich auf Ihren Rat verlassen, empfehlen können. Es sind viele – und die meisten kommen ohne Monster aus. Manche sind ausgesprochen unterhaltsam und werden für gute Laune sorgen. Bei einem ist das garantiert, meint jedenfalls Ralf Schweikart. Sein Buchtipp zum Lachen sollte in der letzten Ausgabe erscheinen, war auch rechtzeitig da – und ist dann verschwunden. Ungeheuerlich!c
Bleibt mir noch, Ihnen einen schönen Herbst zu wünschen. Bleiben Sie uns gewogen. Dafür werden wir in der nächsten Ausgabe, die im November erscheint, große Erwartungen erfüllen.
Franz Lettner
A time of monsters
Julia Boog-Kaminski über Körper- und Sittenmonster
»We live in a time of monsters«, heißt es 1996 in Jeffrey Cohens »Monster Theory«. Schaut man sich die gegenwärtige Kinder- und Jugendliteratur an, kann man das auch für das 21. Jahrhundert behaupten: Hier tummeln sich »Farben-« (2018) und »Prima-Monster« (2012), »Kleine Monster« (2018) und »Bange Monster« (2018), aber auch »Das schrecklichste Monster der Welt« (2016). Doch keines von ihnen passt so recht in das allgemeine Klischee: Monster seien vor allem Wesen zum Fürchten.
Der Literaturwissenschaftler Cohen betrachtet Bestien, Dämonen und Freaks als symbolischen Ausdruck einer Kultur. Besonders ungeheuerliche Wesen gäben Aufschluss darüber, mit welchen kollektiven Ängsten, aber auch Wünschen eine Gesellschaft und Zeit umgehen müssen. Monster sind dementsprechend Projektionen, die nur existieren, um das Eigene zu de-monstrieren: Mit den furchterregenden Gestalten soll das eigene Unheimliche ausgetrieben, in ein Außen verwandelt werden. Nun droht von diesen äußeren Ungeheuern zwar Heimsuchung und Mord, sie können jedoch nicht mehr dem eigenen Inneren entspringen. Monster sind immer die Anderen.
Der Etymologie nach ist das Monster gleichzeitig etwas, das etwas zeigt (monstrare), und etwas, das vor etwas warnt (monere). Es wird also seit seiner Entstehung als Differenzfigur gedacht. Schon in der Antike wurden mit Gorgonen, Sirenen und dem Minotaurus Mischwesen erschaffen, die auf die Grenzen der menschlichen Natur und Gesellschaft verweisen. Neben ihrer bedrohlichen Körperlichkeit, den Schlangen-, Stier- und Vogelkörpern, sind sie äußerst bösartige Wesen, die ihr Gegenüber zu Stein erstarren lassen oder es auffressen. Im Christentum hingegen wurden reale Mischwesen wie siamesische Zwillinge oder ›Elefantenmenschen‹ als Wunderzeichen Gottes gewertet und als »Monstrum« bestaunt.
Doch spätestens seit der Aufklärung wird die äußere ...
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