Liebe Leserinnen und Leser,
»Große Erwartungen«, leitet Michael Ritter seinen Beitrag ein, »sind der Kinderliteratur quasi als vorbelastende Hypothek immer schon beigegeben«. Alle an ihr Beteiligten – Kinder und Jugendliche, Eltern, Pädagog*innen, Urheber*innen und Verlage – erwarten sich etwas von ihr und sie, die Literatur, soll das gefälligst erfüllen. Soll leicht zu lesen und lustig sein, für Bildung und einen Zuwachs an sozialen Kompetenzen sorgen, Anerkennung und ökonomischen Mehrwert einbringen, um nur die wichtigsten Anforderungen zu nennen. Über dieses komplexe Zusammenspiel denkt Michael Ritter am Beispiel der ökokritischen Kinderliteratur nach, die dafür wie geschaffen scheint. Ist sie doch allgegenwärtig, gesellschaftsrelevant, unmittelbar beteiligt an der großen Erzählung der Gegenwart. Diese Bücher sollen die Fehler der Vergangenheit verstehbar machen, die Probleme der Gegenwart beschreiben, einen Weg in die Zukunft zeigen. Wie können Bücher all diese Erwartungen erfüllen – und dabei auch literarästhetischen Ansprüchen genügen, sich etwa durch eine gewisse Deutungsoffenheit auszeichnen? Die Kinder- und Jugendliteratur muss und kann das. Wenn sie den Mut hat, Lesenden etwas zuzutrauen. Wie das auch im Zusammenspiel zwischen Text und Bild gelingen kann, zeigt Marlene Zöhrer in ihrem Beitrag über Leerstellen im Erzählen. Den leeren Raum bezeichnet sie als jenen Platz, an dem sich Überraschungen jenseits des unmittelbar Erwarteten ereignen können.
Mit der Sache der Erwartungen ist es auch auf Seiten der Autor*innen nicht immer einfach. Sie schreiben für ein Publikum, von dem sie wenig wissen, aber etwas wollen – zumindest gelesen werden. Gefragt, was sie sich von ihren Leser*innen erwartet, zitiert die in Berlin lebende Autorin Susan Kreller eine Show von Hape Kerkeling mit dem Titel »Erwarten Se nix«, um dann zuzugeben, dass alle ihre diesbezüglichen Versuche nichts gefruchtet haben. »Auch heute noch erwarte ich mich munter durch mein Leben, durch mein Lesen – und nicht zuletzt durch mein Schreiben.« sagt sie. Der Leipziger Autor Albert Wendt dreht den Spieß um. Das Recht etwas zu erwarten habe nicht er, der Autor, sondern die Leserin, der Leser, diese »lieblichsten, edelsten, klügsten, für Schönheit empfänglichsten Wesen«. Nein, das ist nicht der sprichwörtliche Wiener Charme mit ironischem Beigeschmack, Albert Wendt publiziert zwar seit vielen Jahren im Wiener Jungbrunnen Verlag, aber er meint das ernst. Was die Leser*innen sich erwarten dürfen? Eine gute Geschichte!
Die bestenfalls irgendwann als Buch vorliegt und als solches auch noch einmal und ganz unmittelbar die Erwartungsmaschine füttert. Es kann, wie Silke Rabus zeigt, für Überraschungen sorgen. Also nicht nur Text und Bilder bieten, sondern dazu noch Laschen, an denen man ziehen und Klappen, die man öffnen kann, dazu vielleicht noch einen kleinen Berg, der aus dem Buch herauswächst. Aber auch ein hintergründiges Cover oder ein interessantes Vor- oder Nachsatzpapier, weiß Ines Galling, sind ein perfektes Entrée in eine Geschichte, machen neugierig, irritieren. Und entlassen einen am Ende vielleicht noch mit einer kleinen Überraschung.
Was manche ja nur dann goutieren, wenn sie ein Happy End zur Folge hat: »Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.« Manuela Kalbermatten weiß nicht nur, wer das gesagt hat, sondern hat auch viele Stunden vor dem Bildschirm überprüft, ob das auch für die wichtigsten Serien der Gegenwart gilt.
Einer Prüfung haben die Redaktionsmitglieder einige Bücher ihrer frühen Lesegeschichte unterzogen. Wie liest sich heute, was vor dreißig, vierzig oder mehr Jahren das Herz erfreut hat? Wo mit großen Erwartungen gehandelt wird, sind Enttäuschungen nicht weit, denkt man. Das Ergebnis aber ist, soviel kann ich vorwegnehmen, überraschend positiv. Ob bei dieser Re-Lektüre die Bücher oder die erinnerten Leseerfahrungen eine größere Rolle spielten, kann man hinterfragen.
Warum außer Streit steht, dass Michael Roher die Auszeichnung mit dem Christine Nöstlinger-Preis verdient hat, hat Karin Haller in ihrer Laudatio bei der Preisverleihung im Rahmen der Buch Wien 2021 zusammengefasst. Die Rede mit dem schönen Titel »Die Gedanken sind frei« ist hier nachzulesen.
Damit ist zwar alles gut – aber ich bin noch nicht am Ende. Im Gegenteil, ich komme noch einmal an den Anfang zurück. Zu Kathrin Schärer, die für das Cover dieser Ausgabe von 1001 Buch verantwortlich ist. Die Schweizer Illustratorin, mit der Antje Ehmann über ihre Arbeit gesprochen hat, ist eine Meisterin in der Darstellung von Tieren und Emotionen. Ihr Blatt zum Thema »Große Erwartungen« war für die 1002. Seite gedacht, ist dann aber ganz vorne gelandet. Im Besprechungsteil wird dann die Erwartungsmaschine noch einmal angeworfen. Lesen Sie, von welchen Herbstbüchern Sie sich warum was erwarten können. Zwar kann, wer gar keine Erwartungen hat, auch nicht enttäuscht werden, muss dafür aber auch auf viele Überraschungen verzichten. Erwarten Sie also immer viel von der Literatur. Und überhaupt. Kommen Sie gut durch den Winter und bleiben Sie uns gewogen.
Franz Lettner
Wi(e)derErwarten
Heidi Lexe über die Re-Lektüre von Erich Kästners "Das fliegende Klassenzimmer"
Es braucht eigentlich nur das Kalb Eduard – und schon steht dieser Text in seiner Gesamtheit wieder vor meinem inneren Auge. Dennoch lässt mich jede Neulektüre völlig verwundert darüber zurück, dass es sich bei meinem Lieblingsbuch aus Kindertagen um einen Kinderroman handelt, in dem keine einzige weibliche Figur vorkommt – sieht man von jenen wenigen Zeilen ab, in denen Ulis Eltern (Vater und Mutter) reuig ans Krankenbett ihres nunmehr muterprobten Sohnes eilen; oder jenen, in denen Martins Eltern (Vater und Mutter) ihren Sohn am Weihnachtsabend dank der Großzügigkeit von Justus in die Arme schließen dürfen. Aber vielleicht lag gerade in dieser genderspezifischen Exklusivität der Reiz für eine Achtjährige, die von ihren Eltern gerade von Wien nach Kärnten "verschleppt" und dort in eine ganselige Mädchenklasse gesteckt wurde, die im Handarbeitsunterricht bevorzugt das Heidi-Lied (damals zumindest noch nicht in der Version von Andreas Gabalier) zur kollektiven Trällerei wählte. Das rauhe "Eisern" der Burschengemeinschaft der Tertianer war da wohl ebenso eine Wohltat wie ein ordentlicher Boxkampf im Schnee. Daher darf die beinahe tägliche Lektüre des Romans in diesen Tagen wohl unter die Kategorie "heilsames Lesen" eingeordnet werden. Bei der Re-Lektüre dringt dem Kinderroman Kästners Moralität gleichermaßen wie der überhöhte Kameradschaftsgedanke aus allen Poren. Aber: Welche Wohltat wäre es immer noch, unbehelligt in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon zu leben?
Über die Re-Lektüre eines Lieblingsbuchs der anderen Redaktionsmitglieder können Sie in 1001 Buch 4|21 lesen.
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Adbåge: Unsere Grube
Almeida & Vidinhas (Ill.): Kein Bett in der Nacht
Benjamin: Die Suche nach Paulie Fink
Bilderbuchbande
Brooks: Bad Castro
Bunce: Mord im Gewächshaus
Duhm & Jung: Sie sind überall
Crowther: Kleine Gutenachtgeschichten
Dåsnes: Regenbogentage
Erbertz: Peri Scholz rettet die Welt
Fawcett & Hoffmann (Ill.): Noa und die Sprache der Geister
Finley: Gänseblümchen — eine sehr queere Geschichte
Hasenjäger: Ein kleiner blauer Punkt
Grolleau & Pitz (Ill.): Gejagt
Hearn & Kreituse (Ill.): Der Junge, der Katzen malte
Jäger: Die Nacht so groß wie wir
Janisch & Bansch (Ill.): Kitzeln kann man sich nicht allein
Janisch & Würbs (Ill.): Und dann kam der Fuchs
Kessel & Schröder (Ill.): Wieso? Weshalb? Warum? Erstleser – Weltraum
Kinder Kalender 2022
Klassen: Aus heiterem Himmel
Kolb: Und zwischen uns eine Mauer
Lagercrantz & Lagercrantz (Ill.): Zwei von jedem
Loos: Widerstand ist zwecklos — Nein!
Matsumoto: GoGo Monster
Meggitt-Phillips & Follath (Ill.): Biest & Bethany
Mohl & Kehn (Ill.): An die, die wir nicht werden wollten
Nogués & Lora (Ill.): Wie kommen eine Million Austern auf die Spitze des Berges?
Ohlsson & Bauer: Fanny und die Lieber
Pauli & Schärer (Ill.): Als Rigo Mäuse anpflanzte …
Paxmann: Demokratie für Kids
Pezzulli u. a.: Das Weltall7
Philipps: Tuvalu
Piatti für Kinder
Pin: Damals der Dodo
Poznanski & Hattenhauer (Ill.): Clara sammelt
Radziwiłł & Czaplewska (Ill.): Frauenleben im Lauf der Zeit
Rautenberg & Stangl (Ill.): fünfzehn kilo kolibri
Reumschüssel & Knorre (Ill.): Demokratie für Einsteiger
Roher: Kali kann Kanari
Romanyschyn & Lessiw: Hören
Rosoff: Sommernachtserwachen
Samson & Joshua (Ill.): Ein Zebra in der Schule
Schaalburg: Der Duft der Kiefern
Schaible: Es war einmal und wird noch lange sein
Schlachter: Literale Praktiken und literarische Verstehensprozesse im Feld der Serialität
Scott & Smith (Ill.): Ich bin wie der Fluss
Sølvsten: Ansuz
Stavarič & Ganser (Ill.): Faszination Krake
Teckentrup: Von Raben und Krähen
Tellegen & Boutavant (Ill.): Wird denn hier keiner wütend?
Völk & Brüder Grimm: Zur Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat
Waechter: Ein Tag mit Freunden
Wambold: Bücher lieben lernen
Wieso? Weshalb? Warum? Erstlese-Reihe
Winkler: Fatimas fantastische Reise in eine Welt ohne Erdöl
Wirlinger & Fredrich (Ill.): Das Duell der Großmütter
Zeevaert: Mika, Tony und Jack
Die Besprechungen können Sie in der Rezensionsdatenbank Rezensionen online open lesen – als Abonnent*in auch direkt hier auf dieser Website