Liebe Leserinnen und Leser,
Weil sich die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Tier zuletzt deutlich verändert hat. Zwar gibt es Tierschutz und -rechte in unterschiedlicher Form schon lange, in den letzten Jahren ist aber die Auseinandersetzung um das Tierwohl intensiver geworden. Die grundsätzliche Frage, ob man Tiere essen soll, halten oder nutzen darf, wird zunehmend heftiger diskutiert (natürlich auch vor dem Hintergrund des Klimawandels). In einem Streitgespräch im Juli 2022 mutmaßt der Landwirtschaftsexperte Matthias Krön: "In 50 Jahren wird in Österreich die Produktion von Nutztieren verboten sein." (zitiert nach: Falter 27/22 vom 05.07.2022). An anderer Stelle wird darüber nachgedacht, ob Tiere ein Recht auf "Arbeit unter gerechten und würdevollen Bedingunge"« haben, inklusive gesetzlich vorgeschriebener Altersversorgung (Jana Volkmann: Arbeiten Tiere? im Merkur vom 2. Mai 2022), oder wie sich eine Architektur der Cohabition gestalten lässt, "die nicht-menschliche Tiere nicht tötet, verletzt, ihrer Freiheit beraubt oder ihnen auf andere Art Schaden zufügt." (Peter Richter über »Bauen und Tierwohl« in der SZ vom 12.05.2022) Gebündelt werden dieserart Fragen und Auseinandersetzungen in der Erforschung der Beziehung zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren in der Disziplin der Human Animal Studies. Die in allen Fächern möglich sind und in der Literaturwissenschaft als Literary Animal Studies Mensch-Tier-Beziehungen in literarischen Texten untersuchen. Wobei sie "Tiere nicht nur als Metaphern und Symbole interpretieren, sondern den Fokus auf die Tiere selbst legen", wie Gabriela Kompatscher in ihrer knappen Einführung auf der folgenden Seite erklärt.
"Die Tiere der Welt existieren aus eigenen Gründen" schreibt die Schriftstellerin Alice Walker. Shaun Tan schickt diesen Satz seinem Buch »Reise ins Innere der Stadt« voraus, in dem er Human Animal Studies poetisch betreibt. Kann sein, dass das von manchen als Spinnerei abgetan wird und die Wahrnehmung derartiger Veränderungen in der Beziehung zwischen Menschen und Tieren noch im seismographischen Bereich liegt. Sicher ist: Nach der Lektüre der Beiträge auf den folgenden Seiten werden Sie literarische Texte mit Tierbeteiligung etwas anders lesen.
Wenn Sie Ihren so geschärften Blick in der Praxis anwenden wollen, finden Sie im Besprechungsteil viele Anregungen. Obwohl die Bücher nicht gezielt auf das Thema hin ausgewählt wurden, spielen in mehr als einem Drittel aller rezensierter Titel Tiere eine tragende Rolle. Manche von ihnen sprechen sogar. Lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Halten Sie es wie die meisten Kinder, für die das nicht nur kein Problem ist, sondern die sogar hin und wieder zurück reden. Das wäre ein guter Anfang für ein neues Verständnis zwischen Menschen und Tieren.
Franz Lettner
Die Welt mit den Augen von Tieren sehen
von Gabriela Kompatscher
Seit wir Menschen mit anderen Tieren Kontakt haben, erzählen wir auch über sie: Wir stellen dar, wie sie aussehen, was für Stärken sie haben, welche Bedrohung sie für uns darstellen oder, umgekehrt, welche Bedeutung sie für unser Bedürfnis nach Gesellschaft, Berührung und Unterhaltung und für unser ästhetisches Empfinden haben, aber auch wie wir sie zu Ernährungs- und Kleidungszwecken nutzen. Später haben wir damit begonnen, Tiere zu erforschen, naturwissenschaftlich, philosophisch, veterinärmedizinisch, literarisch, psychologisch, evolutionsbiologisch, sprachlich, kulturwissenschaftlich usw. Dabei wollten wir meist etwas über uns selbst erfahren oder etwas, das uns – meist auf Kosten der Tiere – einen Nutzen brachte. Aber auch ethische Diskussionen über Tiere führen wir bereits seit der Antike, inklusive der Frage, ob wir sie zu unseren Zwecken nützen und töten dürfen (z.B. Plutarch im 1./2. Jh. n. Chr.).
Diese kritische Haltung führt uns zu den Human-Animals Studies. Das Neue an der jungen Disziplin ist, dass Tiere und ihre Beziehungen zu uns auf eine den Tieren angemessene Art und Weise untersucht werden. Dies bedeutet, dass wir Tiere nicht mehr als Objekte, sondern als Subjekte und Individuen mit eigenen Bedürfnissen, Erfahrungen und Interessen wahrnehmen: Wenn wir – so herausfordernd dies auch sein kann – unsere anthropozentrische Haltung überwinden, die den Menschen als Mittelpunkt allen Geschehens sieht, können wir Tiere als Lebewesen mit einem intrinsischen Wert anerkennen, die nicht zu unserem Zweck existieren. Dies befähigt uns zu einem Perspektivenwechsel: Wir können nun versuchen zu erkunden, wie Tiere auf die Welt sehen, wonach sie streben und was sie zu vermeiden suchen. Dabei hilft uns auch unsere Fähigkeit zur Empathie, die gleichzeitig gestärkt wird, wenn wir unser empathisches Bewusstsein auch auf Tiere ausdehnen – dies gelingt uns umso besser, je ähnlicher Tiere uns sind (was uns aber nicht davon abhalten muss, auch jenen Tieren Empathie entgegenzubringen, die sich in Aussehen, Fähigkeiten und Lebensweise gänzlich von uns unterscheiden).
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Alemagna: Der kleine große Augenblick
Bauer & Lomp: Kaya & Flo
Berling & Rödel: Selma, Küsse, Kuddelmuddel
Biermann: Herr Fuchs mag Bücher
Boulley: Firekeeper’s Daughter
Bourne: Happy End gibt’s nur im Film
Brendel-Perpina & Kretzschmar: Serialität in der KInder- und Jugendliteratur
Bronsky: Schallplattensommer
Byrne: Ungebremst
Caspers & Ulf K.: Milla und die sehr gefräßige Schule
Dautremer: Eine winzig kleine Sekunde
Drösser & Coenenberg: Absolut rekordverdächtig
Drvenkar & Keller: Oh je, schon wieder Fußball
Einwohlt & Kehn: Zicke zacke Trennungskacke
Etz & Spagl: Ein Baum kommt selten allein
Fähndrich & Nasrallah: Kleine Festungen
Fiske: Wie macht man eigentlich ein Baby?
Forsythe: Mina
Fretheim & Torseter: Eine Geschichte macht Geschichten
Gmehling: Das Elser-Eck
Guhr: Die unglaubliche Verwandlung
Heidelbach: Marina
Hoffmann: Alles, was gesagt werden muss
Janisch& Pin: Bernd Barfuß
ancovici & Blain: Welt ohne Ende
Johansson & Jeschke: Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern
Johnsen: 3, 2, 1
Kleist: Starman
Kurwinkel u. Stefanie Jakobi (Hg.): Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendliterarischer Motive
Lang: Kein Stress, Jim!
Lang & Schärer: Heute kocht das kleine Känguru
Leitl: Kaiserschmarrn
Lewis: Buddy
Lindgren & Egerkrans: Mio, mein Mio
Mannaert: Yasmina 1. Meisterklasse
Mark: Trip mit Tropf
Martins & Carvalho: Die Erforschung der Welt in 11 außergewöhnlichen Reisen
McGinnis: LOST
Mendoza & Sher: Sanctuary
Müller: Ein Haus mit vielen Fenstern
Naumann & Engelking: Das Geheimnis hinter den Geschichten
Norton: Kurz mal mit dem Universum plaudern
Oswald: Berg
Pavlenko: Die Welt, von der ich träume
Pennypacker: Mein Freund Pax – Die Heimkehr
Der Sohn des Ursars
Rahlens: Future Fairy Tales
Reynolds: Für alle
Rodin: Das kleine Echo
Schubiger & Berner: Eines Nachts im Paradies
Schutten & Oberendorff: Wunderwelt Wald
Schwab & Stefan Karch: Die Geschichte von Mo
Steinkopf (Hg.): Neue Schule
Usher: Wild wie eine Katze
Weber: Meine Vulva, das Einhorn
Weeks: Aurora und die Sache mit dem Glück
Wenig & Oser: Bauer Errfin und der Kongokäfer
Wissen to go: Die Erde | Dinosaurier | Ozeane | Der Mensch
Zahreddine: Zin
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