Liebe Leserinnen und Leser,
an einem heißen Sommertag sitzt ein junges Mädchen neben ihrer Schwester, die ein Buch liest, das "weder Bilder noch sonst etwas Bemerkenswertes" enthält. Was folgt, ist bekannt als eine große Geschichte, die über ein Kaninchenloch in eine Welt voller Sensationen und Wunder führt. Dass Bilder Bücher bemerkenswert machen, davon ist Alice überzeugt – und ich bin ganz ihrer Meinung. Nicht deshalb, weil sie auch von jenen gelesen werden können, die (noch) nicht zu buchstabieren imstande sind. Sondern weil Bilder die Möglichkeiten des Erzählens erweitern. Schauen Sie noch einmal genauer auf die 1002. Seite von Raffaela Schöbitz, der wahrscheinlich ohnehin Ihr erster Blick beim Aufschlagen dieser Doppelseite gegolten hat: Text ist hier nicht nur Teil des Bildes, sondern zugleich auch Bild, Buchstaben sind nicht nur Schriftzeichen, sondern auch Gestaltungsmittel, die zu Schall ODER Rauch werden können, Bücher werden zu Räumen, in denen sie wiederum Bilder sind … Das schöne Blatt der österreichischen Illustratorin (auf S. 67 finden Sie die Besprechung eines ihrer aktuellen Bücher) reflektiert auch raffiniert über das Erzählen mit Bild und Text. Und macht so das Potential multimodalen Erzählens anschaulich. Was das genau ist und bedeutet, erklärt Marlene Zöhrer in ihrem einleitenden Beitrag.
Dem Zusammenspiel von Text, Bild und Gestaltung ist der Schwerpunkt dieses Heftes insgesamt gewidmet. Und auch Agnès Laubes Essay ist grundsätzlicher Art. Die Schweizer Designerin und Autorin nimmt das Schriftbild unter die Lupe, die Entwicklung von Schrift zum Bild, von Typen und Fonts und ihre Bedeutung für das Bilderbuch. Marlene Zöhrer wie Agnès Laube schärfen unseren Blick. Fordern uns Literaturvermittler:innen auf, genau hinzusehen, den ersten Eindruck zu hinterfragen – oder jedenfalls zu fragen, wie er entstanden ist.
Ganz genau hingesehen haben auch alle weiteren Beiträgerinnen. Anna Stemmann etwa auf die Kindercomic-Szene. Sie findet dort eine Vielfalt in jeder Hinsicht und stellt fest, dass die Grenzen zwischen Bilderbuch und Comic teilweise aufgelöst werden. Nicole Kalteis untersucht, wie Illustrationen in Bilderbüchern Weiblichkeit konstruieren und dekonstruieren. Eine spannende Frage gerade in einer Zeit, in der einerseits Diversität in der Kinderliteratur ausgesprochen groß geschrieben wird und andererseits die Zweiteilung in Rosa und Blau, Feen und Piraten, Reiten und Reisen auf dem Kinderbuchmarkt immer noch die Regel ist. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gilt also immer noch. Wenn man will, findet man – in der gut sortierten Kinderbuchabteilung einer Buchhandlung oder Bibliothek – sogar in der Sparte Pappbilderbuch zeitgemäße Darstellungen etwa des Familienalltags. Das stellen jedenfalls Simone Kremsberger und ihre dreijährige Assistentin Karla fest, die sich einen Stapel Pappen vorgenommen haben.
Fest steht sowieso: Außerordentliches lässt sich in jedem Segment finden. Etwa in jenen Sachbilderbüchern, die nicht nur Kluges über die Geschichte der Erde oder des Geldes, Kraken oder gar über "Alles" zu sagen haben, sondern das so exzeptionell tun, dass Silke Rabus sie Gesamtkunstwerke nennt. Auch so geht Multimodalität!
Das Potential des Bilderbuchs lässt sich natürlich auch noch einmal anders anschaulich zeigen: indem man Menschen vorstellt, die es ausschöpfen. Zum Beispiel Ulrike Möltgen. Heidi Lexe präsentiert sie mit ihren jüngsten Büchern und fokussiert dabei auf die Arbeitsweise der Wuppertaler Illustratorin, die bereits zwei Mal mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. Karin Vach hat sich das Gesamtwerk des kanadischen Illustrators Sydney Smith vorgenommen, der zuletzt zwei Mal hintereinander für den Deutschen Jugendliteraturpreis (DJLP) nominiert war und ihn einmal gewonnen hat. Und Christine Knödler stellt die Grafikerin, Illustratorin und Papierliebhaberin Felicitas Horstschäfer vor, die Cover macht, Bücher illustriert, Sachbücher konzipiert und gestaltet – und ebenfalls zwei Mal für den DJLP nominiert war. Was für eine hochkarätige Runde mit einem so großartigem Œuvre.
Hätte Alice’ Schwester ihr aus dem "Humboldt-Tier" vorgelesen, aus "Sally Jones", den "Fireside Mysteries", "Pizza vom Südpol" oder einem der vielen anderen illustrierten Bücher, die im zweiten Teil dieser Ausgabe besprochen werden, wäre das Mädchen vermutlich nicht dem sprechenden Kaninchen gefolgt, sondern hätte ihre neugierige Nase in das Buch gesteckt.
Wie schon in den Jahren zuvor schließt auch diese letzte Ausgabe des Jahres mit persönlichen Buchempfehlung der Redaktionsmitglieder. Wenn Sie noch jemanden zu beschenken haben, finden Sie auch dort Bemerkenswertes.
Mir bleibt, Ihnen im Namen der Redaktion Gutes zu wünschen, setzen Sie dem schwierigem Weltenlauf etwas entgegen. Und bleiben Sie uns gewogen.
Franz Lettner
Wunderwerk Bilderbuch Oder: Die Komplexität multimodaler Texte
von Marlene Zöhrer
Was bedeutet multimodal? Wer sich mit Bilderbüchern beschäftigt, begegnet dabei immer wieder dem Begriff des multimodalen (Gesamt-)Textes; unbestritten ist das Medium Bilderbuch multimodal, schließlich nutzt es unterschiedliche Zeichensysteme bzw. Zeichenmodalitäten (Sprache, Bild, Typografie), um zu kommunizieren, zu informieren, zu erzählen. Multimodale Texte definieren sich dadurch, dass mindestens zwei Zeichenmodalitäten(1) strukturell und funktional integriert werden.(2) Dies trifft nicht allein auf das Bilderbuch zu, wie Hartmut Stöckl betont, der Multimodalität als ein "vergleichsweise einfaches und alltägliches Phänomen" bezeichnet: "Wir kennen eine Vielzahl multimodaler Texte. Sie treten uns über Medien entgegen […]. Gedruckte Texte setzen Sprache (Schrift) und Bild zueinander in Beziehung, Radiotexte integrieren gesprochene Sprache, Geräusche und Musik, und in audiovisuellen Texten verbindet sich potenziell ein Maximum an Zeichenressourcen: Sprache (geschrieben und gesprochen), Bild (statisch und bewegt), Ton (Musik und Geräusch). Fügt man hier nonverbale Zeichensysteme wie Gestik, Mimik und Körperhaltung sowie paraverbale semiotische Ressourcen wie Intonation, Stimmgestaltung oder Typografie und Layout hinzu, […]."(3), wird klar, dass wir von multimodalen Texten umgeben sind. "[A]ll texts are multimodal"(4) spitzen Gunther Kress und Theo van Leeuwen diese Beobachtung zu. Und verweisen dabei auf die Tatsache, dass Kommunikation stets mehrere Zeichensysteme kombiniert. Das Verständnis von Text, das all diesen Aussagen und Feststellungen zugrunde liegt, ist ein semiotisch erweiterter Textbegriff(5), der neben Sprache (gesprochen und geschrieben) Bilder (bewegt und unbewegt) ebenso einschließt, wie etwa Musik oder Geräusche.
Den ganzen Beitrag (und die Fußnoten) können Sie in 1001 Buch 4|22 lesen.
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Black Voices (Hg.): War das jetzt rassistisch?
Boie: Gangster müssen clever sein
Caletti: Wie ein Herzschlag auf Asphalt
Clima: Der Geruch von Wut
Curtis & Dockrill: Stadt, Land, Wasser
Davies & Carlin: Ein Baum ist ein Anfang
Eshrat: Coming of H
Flix: Das Humboldt-Tier
Fuchs & Kovacs & Reitbauer (Hgg.): Vielfalt Bilderbuch
Gauld: Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin
Grill & Schöbitz: Sam und die Evolution
Grossmann-Hensel: Sachen kaputt machen
Grytten & Kanstad Johnsen: Bettzeit
Höfler: Feuerwanzen lügen nicht
Jäger: Schnabeltier Deluxe
Janisch & Sender: Das goldene Zeitalter
Javaux & Masson: Der Tag, an dem ich den bösen Wolf verjagte
Kinderkalender 2023
Kristoff: Das Reich der Vampire
Lavie & Kuhl: Konrad Kröterich
Laffon & Delphine: Ein merkwürdiges Tier
Lies: So groß wie der Himmel
McGhee: Nachrichten von Micah
Michaelis: Im Schatten des Märchenerzählers
Milford: Fireside Mysteries
Mohl: Henny & Ponger
Nilsson: Sem und Mo im Land der Lindwürmer
Nuanez: Birdie und ich
Ofner: Grizzlybär und Hasenfuß
Ogette: Ein rassismuskritisches Alphabet
Okamuran & Böhm & Franta: Die Stadt für alle
Pigé: Ein Sommer voller Träume
Rassmus: Pizza vom Südpol
Reynolds & Cherry-Paul & Kendi & Rachelle Baker: Rassismus, Antirassismus und du
Rieck & Ofner: Kolosso
Sandjon: Die Sonne, so strahlend und schwarz
Seibert: Kindheitsgenealogien
Singh & Jain: Es werde Wald!
Solotareff: Krokottilie
Sonneson: Stolpertage
Steinlein & Ryans: Die Vielfalt der Natur
Tak: Die Eiche und der Federschopf
Thummler: Sheets. Am Ende bleibt uns nur ein Bettlaken
Vaicenavičiene: Was ist ein Fluss?
Valentine: Ich bin Joy
Van Allsburg: Der Garten des Abdul Gasazi
Viška & Braslina: Kati will Grossvater werden
Völk: Drachenregentage
Wegelius: Sally Jones und die Schmugglerkönigin
Wrede & von Sperber: … Und dann?
Yelin & Libicki & Seliktar: Aber ich lebe
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