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Kinder- und Jugendliteratur aus Österreich …
August 1978: Wir ziehen nach Österreich! Ich bin neuneinhalb und habe keine Ahnung, wo dieses Österreich liegen soll. Mein Vater zeichnet eine Europakarte. Ich bin enttäuscht. Hanneke ist im letzten Schuljahr mit den Eltern aus Nairobi zurück nach Holland gekommen und Caroline ist mit ihrer Familie nach Ouagadougou gezogen. Diese Namen versprechen Abenteuer pur. Da kann Österreich nicht mithalten. Wenn es wenigstens in Afrika liegen würde. (Rachel van Kooij)
Auf meinem Teller Nsima mit Okraschoten und das knusprige Ende vom Apfelstrudel. Auf meiner Playlist Danny Kaya, Nalu, STS und Hubert von Goisern. Ich forme den letzten Rest Maisbrei zu Kügelchen, drücke eine Delle hinein, schaufle Okra drauf. Ein Schluck Wasser. Dann schließe ich die Augen und lasse den Apfelstrudel auf meiner Zunge tanzen. Österreich in kleinen Stückchen. (Sarah Michaela Orlovský)
Die Suppe köchelt am Herd. Es dampft und riecht intensiv danach. Die Mutter reibt den Schweinsbraten mit Gewürzen ein und schiebt ihn ins Rohr. In das Rohr beim Holzofen. Das hat eine bessere Hitze als der E-Herd. Es ist schon seit dem frühen Morgen eingeheizt. Mutter und Tante schwitzen. Die Ärmel der beiden sind aufgekrempelt. Die Hände wischen sie dann und wann in die geblümten Kleiderschürzen. Die gekochten Erdäpfel werden noch heiß geschält und durch die Presse gedrückt. Zum Schweinsbraten gehören Erdäpfelknödel. (Rosemarie Eichinger)
Ich schaue in die Welt, die ich vor Augen habe, und die ist divers. (Verena Hochleitner)
Wir sitzen in unserem Österreich. Mit einer Pomelo auf einem Gmundner Keramik Teller. Mit einem Gmundner Keramik Teller auf einem Aghabani Tischtuch. Gelb in weiß-grün, auf weiß-gold. (Luna Al-Mousli)
Die Welt ist belebt. Der Boden ist belebt. Der Inhalt von Hosentaschen. Das Muttermal, der Stein. Das Tier spricht, der Baum verwandelt sich, die Landschaft bewegt sich, die Ameise singt. Tatsächlich? (Michael Hammerschmid)
Hier sind wir. Und von diesem Punkt gehen lauter Straßen weg, die zu anderen Punkten führen, von denen wieder neue Straßen zu weiteren Punkten führen. Und im Endeffekt kommt man von hier aus überall hin! (Agi Ofner)
Inhalt
Oben
von Helga Bansch
ist Franz Lettner
Der Anger
von Heinz Janisch
Sehen. Sich wundern
Ela Wildberger über Julie Völk
Österreich
Lyrische Annäherung von Lena Raubaum
von Franz Orghandl
Okra & Apfestrudel
von Sarah Michaela Orlovský
So ein Kaiserschmarrn
Leonora Leitl im Gespräch mit Klaus Nowak
Die Suppe köchelt
von Rosemarie Eichinger
Wurzeln
von Dorothee Schwab
Ein Thriller pro Jahr
Christina Pfeiffer-Ulm über Ursula Poznanski
Die Welt ist belebt
von Michael Hammerschmid
Das richtige Stück
von Irmgard Kramer
Gleich wissen wir mehr
Julia Lückl über Melanie Laibl
Lurche und Kriechtiere in Österreich
von Willy Puchner
Poesie zwingt sich nicht auf, sie setzt sich aus
von Michael Stavarič
Schauen, was passiert!
Silke Rabus über Verena Hochleitner
Die Weite vor uns
von Agi Ofner
Süß Sauer Bitter
von Luna Al-Mousli
Ich werde mutiger
Raffaela Schöbitz im Interview mit Franz Lettner
Durch die Zeit reisen
von Magda Hassan
Die Süße von zwei Welten
von Rachel van Kooij
Alles, nur nicht Schwarz Weiß
Heidi Lexe über Elisabeth Steinkellner
Schattentänzer
von Hannes Wirlinger
Kleines kulinarische Österreich-ABC
von Linda Wolfsgruber
"Schneelöwe" von Heinz Janisch & Michael Roher
wurde in der grund_schule der künste gelesen
Liebe Leserinnen und Leser,
wussten Sie, dass das Rot in der österreichischen Nationalflagge nicht gesetzlich geregelt ist? Ein bisschen heller, ein bisschen dunkler, alles kein Problem. So viel Freiraum bezüglich eines so mächtigen Symbols ist überraschend. Wenn es das richtige Rot nicht gibt, gibt es auch kein falsches. Staatstragend ist 1001 Buch aber trotzdem nicht, dazu sind die beiden breiten Pinselstriche auf dem Cover zu schlampig aufgetragen. Sie haben aber wahrscheinlich trotzdem in Richtung Österreich gedacht – und liegen damit nicht ganz falsch. Österreich nämlich ist Gastland bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse – und 1001 Buch eine der hiesigen Literaturzeitschriften, die den Besucher:innen der Messe zum Gastgeschenk gemacht werden. Eine gute Idee ist das, viel gesünder als Fett und Zucker etwa, Bestandteile einiger der bekanntesten Süßspeisen des Landes, die von Auswärtigen hier gern verzehrt werden. Dass auch mit Literatur der Geschmack eines Landes verkostet werden kann – und noch viel mehr, davon bin ich überzeugt. Und kann Karl Markus Gauß nur zustimmen, wenn er die Literatur den »Königinnenweg« nennt, um ein Land kennenzulernen. "Die Literatur hat keine nationale Bestimmung, aber töricht wäre es zu glauben, dass die Globalisierung an jedem Ort der Erde dieselbe Farbe habe und dieselben fruchtbaren oder furchtbaren Folgen zeitige." (https://gastland-leipzig23.at/meaoiswiamia/)
Die österreichische Literatur ist nicht Rot-Weiß-Rot, sie hat keine bestimmte Farbe, aber der Ort, an dem sie entsteht, ist ihr in vielen unterschiedlichen Tönen eingeschrieben. Auf den folgenden Seiten haben Sie die Möglichkeit, Österreich über seine Kinder- und Jugendliteratur kennenzulernen, die hier entsteht. Einige Landmarken werden in zwei unterschiedlichen Formaten präsentiert: Einerseits gibt es ausführliche Interviews und Porträts von sechs Frauen, die in Österreich schreiben und illustrieren. Verena Hochleitner, Melanie Laibl, Leonora Leitl, Ursula Poznanski, Raffaela Schöbitz, Elisabeth Steinkellner und Julie Völk haben ein umfangreiches Werk vorgelegt und eine eigene Handschrift entwickelt. Sie sind erfolgreich und von ihnen ist noch einiges zu erwarten.
Zum anderen haben wir siebzehn weitere Autor:innen und Illustrator:innen um ein Stück Österreich gebeten. Und vielfältige literarische Kost bekommen, die von der Kindheit ihrer Köch:innen gespeist wird: Etwa einen Anger im Südburgenland, auf dem Pele, Beckenbauer und Cruyff Fußball gespielt haben; eine mächtige Essigmutter, die auf einer Fensterbank über einem Heizkörper mutmaßlich in der Steiermark thront und den Weg in eine andere Galaxie kennt. Einen Tisch im niederösterreichischen Alpenvorland, an dem die Geschlechterfrage diskutiert wird.
Sind Menschen, die für Kinder künstlerisch arbeiten, ihrer eigenen Kindheit inniger verbunden als andere? Auf die Frage, ob man Kinder mögen muss, um für sie Bücher zu machen, meint Raffaela Schöbitz im Interview, dass es zumindest essentiell sei, einen Draht zu ihnen zu haben – oder zum eigenen inneren Kind.
Wenn Geschichten über Kindheit erzählt werden, die innerhalb Österreichs stattfindet, scheint mir die Frage, was daran österreichisch ist, meist unerheblich. Für Kinder spielt der Begriff der "Nation" unmittelbar keine Rolle. Heimat sind ein paar Straßen, ein Landstrich, ein Dorf, ein Grätzl in einer Stadt und die Menschen, die dort leben. Muss man den Ort verlassen, an einen neuen ziehen, ist das schwer, egal ob dabei eine Landesgrenze überschritten wird oder nicht. Entscheidender ist die Frage, ob man die Sprache spricht, die dort gesprochen wird, den Hausbrauch beim Kekse essen kennt. Wie lang dauert es, bis man über den Geschmack der früheren, ferneren Heimat erzählen kann, eine Pampelmuse von einem Gmundner Keramik Teller genießen kann, der auf einem Aghabani Tischtuch steht?
Einige Autor:innen loten in ihrem Stück Österreich den Sprachraum aus, aus dem sie schöpfen, den Grund ihres Schreibens, die Möglichkeiten der Literatur, der Kinderliteratur. Zur Erholung gibt es zwischendurch Kulinarisches – Vogerlsalat und Topfengolatschen etwa – oder Komisches. Beides ist hierzulande auch zu haben.
Und nicht zuletzt wird in den gesammelten Stücken der Wunsch beschrieben, einen Ort zu verlassen, wenn es Zeit ist. Schließlich gehen von da "lauter Straßen weg, die zu anderen Punkten führen, von denen wieder neue Straßen zu weiteren Punkten führen. Und im Endeffekt kommt man von hier aus überall hin!" (Agi Ofner).
Sowieso ist die Welt groß, und sie wird größer, wenn man wächst. (Sie wächst natürlich auch, wenn man liest!) Es gibt mehr als das, was man schon kennt. Eine hierzulande weitverbreitete Mentalität, die sich im laut vorgetragenen Leitspruch MIA SAN MIA äußert, war immer schon fragwürdig. Das Eigene genügt nie auf langer Strecke. MEA OIS WIA MIA lautet dementsprechend das Motto des Gastlandauftritts Österreichs in Leipzig. Es tönt schön fremd für die, die nicht von hier sind. Ihnen kann man es ausbuchstabieren: MEA OIS WIA MIA steht für ein WIR, das differenziert, aber nicht ausgrenzt. Das nicht alles gleichmacht, aber vieles umfasst: unterschiedliches Herkommen, unterschiedliche Haltungen, Generationen. Die Literatur ist ein Königinnenweg zu diesem Wir.
Franz Lettner
Das ist nichts für Kinder
von Franz Orghandl
Die Essigmutter wallte in ihrem mächtigen Gurkenglas. Sie war sauer und weise. Sie war eine Qualle, weit, weit weg vom Meer.
Wenn die Kinder den Erwachsenenbeinen in der Küche im Weg waren, so hieß es: "Schaut, ob die Essigmutter gewachsen ist."
Dann ging es hinaus in den dämmrigen Gang. Eine Tür führte zur Speisekammer. Eine in den Heizraum. Eine in den Stall. Auf der Fensterbank über dem Heizkörper thronte die Essigmutter und hatte sich im stumpfen Novemberlicht in milchige Schleier gehüllt.
Und wirklich, sie war gewachsen.
"Die Großmutter füttert sie", flüsterte Caecilia, "ich hab es gesehen."
"Wie denn, sie hat doch keinen Mund", sagte Herbert.
"Von oben schüttet sie etwas in ihr Glas."
"Sie isst mit ihrem Gehirn", war sich die kleine Rosi sicher.
"Ihr könnt jetzt eure Fragen stellen", sagte die Essigmutter.
Sie sprach nicht nur ohne Mund, sondern auch ohne Stimme. Die Kinder starrten sie an.
"Welche Fragen?", murmelte Caecilia betreten.
Gab man Antwort, wenn etwas keinen Ton hatte?
"Was ist 7 plus 3", fragte Herbert.
"Frag etwas Klügeres", verlangte die Essigmutter, ohne einen Laut zu tun.
"Warum ist der Himmel blau?", wollte die kleine Rosi wissen.
Und das, obwohl er gerade grau und schmutzig war.
"Weil ich es ihm erlaube", sagte die Essigmutter.
"Was glitzert da in deiner Mitte?", fragte Caecilia.
"Ach das", tat die Essigmutter wegwerfend. "Eine Galaxie."
Die Kinder stierten in die dumpf leuchtenden Gestirne hinter ihren Schleiern.
"Ich bin eine Essigmutter, ich bin die Götterdämmerung", ließ sie die Essigmutter wissen.
"Kenn ich nicht", sagte Herbert.
Die ganzen Erzählung können Sie in 1001 Buch 1|23 lesen.
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Al-Mousli: Um mich herum Geschichten
Almond: Skellig / Mein Name ist Mina
Bournay: Im tiefen finsteren Wald
DiCamillo: Die wundersame Reise der Beatryce
Eismann u.a.: Wo kommst du denn her?
Faber & Hobday (Ill.): Durch die ganze Nacht
Fadejewa: Wind
Goossens & ten Berge (Ill.): Unser wildes Zuhause
Gulden: Gifted
Janisch & Roher: Schneelöwe
Harms: Milch ohne Honig
Hesse: Das kleine Unsichtbar
Huber-Janisch & Zacharias: Die Pfütze
Ilustrajo: Nur ein bisschen Wasser
Jean & Bensidoun & Enzo (Ill.): Die irre Geschichte der Globalisierung
Kooij: Die weltwichtigste Briefmarke
Kurwinkel & Brendel-Kepser & Bartl (Hrsg.): Illustrators in Residence
Laibl & Brönner (Ill.): Superglitzer
Loth-Ignaciuk & Ignaciuk (Ill.): Ins ewige Eis!
Ludwig: Ellie & Oleg
Lüthen & Delaney (Ill.): ela
Mannel & Benz (Ill.): Wer schläft, wer wacht in der Nacht?
Obrecht & Völk (Ill): Wie anders ist alt?
Oliver & Miren Asiain Lora: Die Erzählerin der Nacht
Orlovský & Maslowska (Ill.): Maulwurf und ich
Orths & Meyer (Ill.): Opa fliegt
Ozeki: Die leise Last der Dinge
Penke: Instapoetry
Pinfold: Paradise Sands
Quiviger: Eckstein
Raubaum: Oma Klack macht Schabernack
Reinhardt: Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen
Romanyschyn & Lessiw: Das Rübchen – Ripka
Rørvik & Weikert (Ill.): Fuchs & Ferkel – Torte auf Rezept
Schneider & Palmtag (Ill.): Nachtlampenfieber
Schöbitz: Mach dir die Welt
Shah: Ajay und die Tintenhelden
Socha & Utnik-Strugała: Das Buch vom Dreck
Sprinz: In unserem Universum sind wir unendlich
Stavarič & Dreis (Ill.): Piepmatz macht Wald aus euch
Stohner: Bleibt Oma jetzt für immer?
Straßer: Suppe ist fertig!
Thomas: Yadriel & Julian
Townsend: Alva und das Rätsel der flüsternden Pflanzen
Zipfel & Heinrich: Bosco Rübe rast durchs Jahr
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