Liebe Leserinnen und Leser,
Finden Sie nicht auch, dass es perfekt ist, unser Alphabet? Die 26 Buchstaben sehen echt gut aus – und sie reichen darüberhinaus fast aus, um alle Gedanken zu denken, alle Gespräche zu führen, alle Bücher zu schreiben und zu lesen. (Von Umlauten und scharfem S sehe ich ab, eigentlich koennte ich darauf verzichten:) Der einzige Haken: Man muss es lernen, das Alphabet, das Sprechen, das Lesen und das Schreiben. Ja, auch das Denken. Aber es beginnt mit dem Lesen und Schreiben, und das wiederum ist echt eine Herausforderung. Manche erlangen diese Kompetenz zwar auf unergründlich direktem Weg, so wie Kaspar, dessen Mutter ihren fünfjährigen Sohn bei der Durchsicht des Fernsehprogramms ertappt: "Ich habe ihn gefragt, wer ihm das Lesen beigebracht hat. Niemand hat er gesagt. Es war schon in seinem Kopf, hat er gesagt."* Für die meisten ist es allerdings ein steiniger Weg, bis – zumindest potentiell – alle Gedanken gedacht und alle Bücher gelesen werden können.
Die folgenden Seiten richten den Blick auf die ersten Schritte in dieser Richtung. Weil das Alphabet Grundlage für alles ist, ist es in dieser Ausgabe auch Ordnungsprinzip: An jedem der 26 Buchstaben hängt ein Text oder Bild. Und weil das Alphabet so schön ist, ist ihm auch der erste und umfangreichste Beitrag gewidmet, der darüberhinaus alles einrahmt. Wie das geht? Heidi Lexe schreibt unter den Buchstaben ABC sowie XYZ über ABC-Bücher: Wo kommen sie her, was macht sie aus, warum gibt es sie immer noch in erstaunlicher Vielfalt, obwohl das Erzählverfahren von A bis Z so simpel und rigoros ist?
Zwischen diesem Anfang und Ende tut sich eine Wundertüte auf. Darin: eine strenge Kriterienliste für das Verfassen von Erstlesebüchern ebenso wie kein Quatsch über den literarischen Quatsch, eine kompakte Darstellung des Begriffs der Einfachheit, wie ihn Maria Lypp beschrieben hat, ein paar Lieblingsfiguren aus Erstlese-Reihen, ein Plädoyer für den Einsatz von Literatur im DAF*Z-Unterricht, ein Besuch im Kaffeehaus der Poesie und auf dem Sprach-Spielplatz …
Einige Buchstaben sind den Preisträger:innen des Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2023 und ihren Büchern gewidmet – oder stammen von ihnen: Das H hat Nele Brönner abgekriegt, zusammen mit einigen Fragen zu »Superglitzer«, in dem sie eine Geschichte von Melanie Laibl in einen Bilderbuch-Comic verwandelt hat. Grund zum Jubeln hat auch Nini Spagl, zusammen mit Elisabeth Etz schickt sie in »Ein Baum kommt selten allein« Kinder in Begleitung einer Gang von Kleingetier in den Wald, aus dem sie nach der Lektüre vermutlich klüger wieder rauskommen. Das K konnte nur an Michael Roher gehen: mit dem Kugelschreiber hat er nämlich den »Schneelöwen« gezeichnet, in dem er mit Heinz Janisch das Tier im Menschen findet. Und weil Michael Hammerschmids ausgezeichnetes Buch, das María José de Tellería mit Bildern versehen hat, »wer als erster« heißt, war es naheliegend, ihm mit dem w einen der letzten Buchstaben anzutragen. Ich gratuliere allen herzlich, auch jenen, deren Bücher in die Kollektion aufgenommen wurden, und den beteiligten Verlagen.
Allen, die das Lesen schon gelernt haben, sind die ausgezeichneten Bücher ohne weiteres zugänglich. Den anderen sollten sie vorgelesen werden, damit ihnen klar wird: Das Lesen ist die Mühen des Anfangs jedenfalls wert. Das beweisen im Übrigen auch jene Bücher, deren Besprechungen Sie in dieser Ausgabe finden.
Sie fragen sich vielleicht, wie das inzwischen mit Kaspar und seiner Mutter weitergegangen ist? Sie hat ihn umstandslos zum Arzt gebracht, irgendwas musste mit dem Kopf des Jungen ja los sein. Der Befund des Doktors: "»Sonja«, sagte er, »ich habe eine schlechte Nachricht und eine gute. Die schlechte ist, daß Lesenkönnen unheilbar ist. Die gute ist, daß man nicht daran stirbt.«" Danach ist Kaspars Mutter mit ihrem Jungen in die Öffentliche Bücherei gegangen …
Natürlich können Sie jetzt einwenden, das sei eine erfundene Geschichte, also nur ausgedacht von einem, der halt gut lesen und schreiben gelernt hat. Das mag schon sein. Aber auch echte Menschen berichten interessante Dinge in dieser Sache: "Lesen lernen", erinnert sich etwa Paulus Hochgatterer, der immerhin auch Arzt ist, "war bei mir verknüpft mit Petzi-Büchern, und Petzi-Bücher waren verknüpft mit Angina. Einmal dicker Hals, Fieber, Bettliegen — ein Petzi-Buch, so einfach ging das. Immer öfter hatte ich Angina, bis meinen Eltern schließlich die Geduld riss und sie mir die Mandeln rausschneiden ließen. Im Spital hatte ich all meine Petzi-Bücher dabei, das weiß ich noch, und baute mir aus ihren wunderbaren Sätzen, die neben den Gebeten, die in meiner Familie aufgesagt wurden, die mir vertrautesten Sprachgebilde waren, ein semantisches Nest. Petzi und seine Freunde Pelle, Pingo und Seebär waren somit auch sprachlich bei mir."**
Das Alphabet ist also auch die Grundlage von semantischen Nestern, es ist wirklich perfekt.
Kommen Sie gut durch den Sommer.
Franz Lettner
* Willy van Doorselaer: Ich heiße Kaspar (Hanser 1995) ** Paulus Hochgatterer: Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit (Deuticke 2012).
ABC. Buchstabenfolge und literarisches Ordnungselement
von Heidi Lexe
tairauqitnA eiw A. An den Beginn von Michael Endes »Die unendliche Geschichte« wird nicht nur die Flucht von Bastian Balthasar Bux in den verschrobenen Bücherladen des Karl Konrad Koriander gestellt. Es wird mit dem spiegelverkehrt inszenierten Ladenschild auch ein Buchstaben-Spiel augenfällig, das sich in der Alliteration der Namen jener beiden Figuren fortsetzt, die in diesem Antiquariat aufeinandertreffen. Mehr noch: Sobald Bastian jenes geheimnisvolle, in kupferfarbene Seide gebundene Buch (im Buch) aufschlägt, das denselben Titel trägt wie jener Roman, den die Leser*innen in Händen halten, wird von A bis Z erzählt.
Literarisiert wird dabei ein Lektüreprozess, der als Dialog zwischen dem kindlichen Leser (im Buch) und dem Buch (im Buch) expliziert wird, indem auch der Roman selbst typografisch zweifarbig gestaltet ist: Die beiden Erzählebenen – die eine in Rot gesetzt, die andere in Grün – greifen zunehmend ineinander und treiben körperliche, räumliche und zeitliche Entgrenzungen voran. Bis Bastian schließlich mit dem zwölften Glockenschlag aus der Rolle des Lesenden in die Rolle des Handelnden jener Geschichte wechselt, die er gerade liest. An diese Metalepse ist die Notwendigkeit gebunden, Phantásien neu entstehen zu lassen. Es ist Bastians Aufgabe, die sekundäre Welt durch seine Wünsche aus einem Sandkorn neu zu erschaffen. Die Buchstaben des Alphabets, die den Kapiteln in der Erstausgabe des Romans in ornamental ausgearbeiteten Buchstaben-Bildern von Roswitha Quadflieg vorangestellt sind, repräsentieren dabei den Ursprung allen (schriftsprachlichen) Erzählens. Es bedarf jedoch der Kraft der Fiktion, der Vorstellungsgabe, Geschichten aus diesem Buchstabenmaterial zu formen. Die Außenwelt Phantásiens bleibt dabei mit der Innenwelt Bastians verwoben – gespiegelt im Selbstfindungsprozess, der in Stationen durchlaufen werden muss. Von A bis Z.
Gelesen werden könnte "Die unendliche Geschichte" also durchaus als ABC-Buch. Nicht als Elementarbuch im Sinne des Erlernens der Schriftsprache; aber durchaus als Elementarbuch im Sinne von Michael Endes anthroposophischen Überzeugungen. Das Erschaffen Phantásiens aus dem wortwörtlichen Nichts korrespondiert dabei mit der biblischen Erschaffung der Welt: Das erste Wort der Tora (und damit das erste Wort der Bibel), das hebräische Wort bereschit, lässt sich in deutscher Übersetzung lesen Als Anfang/Zu Anfang/Im Anfang/Am Anfang (Gen 1,1).4 Diesem Anfang voraus geht das Tohuwabohu, das Nichts.
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Bach: Honig mit Salz
Bakhareva & Desnitskaya (Ill.): Märkte in aller Welt
Bansch: Monstergeburtstag
Banscherus & Neubert (Ill.): Aber Luise!
Barrows: Zum Glück bist du kein Pilz!
Berling & Rödel (Ill.): Yunus, Zocken, Liebeszeugs
Bläsi: ABC Schweiz
Blum: Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen
Boie & Katrin Engelking (Ill.): Der Hoffnungsvogel
Crossan: Toffee
Darer & Vogel (Ill.): Franz, die Wanz und Jack, der Zeck
Dürr: Wo kommen unsere Sachen her?
Fehr & Di Giorgio (Ill.): Wir bauen einen Damm!
Fiske: Wie ist es eigentlich, erwachsen zu sein?
Fitchard & Long (Ill.): Großartige Tiere
Gansel u.a. (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur heute
Gmehling & Damm (Ill.): Pizzakatze
Grimm & Bonilla: Der Wolf und die sieben Geißlein/Rotkäppchen
Guterson: Die Einsteins und der geheimnisvolle Turm
Gutzschhahn & Wolfsgruber (Ill.): Der kleine Eiskönig
Haine: Es ist doch schön, nackt zu sein …
Harding & Teckentrup (Ill.): Das alte Haus an der Gracht
Hargrave & de Freston (Ill.): Julia und der Hai
Hartlieb & Flattinger: Der Wald heult
Hohler & Schärer (Ill.): Das kleine Wildschwein und die Krähen
Holmes: Einfach mehr Luft
Hvorecky & Smatana (Ill.): Donau. Ein magischer Fluss
Järvinen & Merz (Ill.): Der Weckruf der Tiere
Karch: Vincent und ich
Köhlmeier: Frankie
Koens: Dieser Sommer mit Jente
Leitl: Monsteraffen gibt es nicht!
Lindenbaum: Der erste Schritt
Lindström: Wir sind die Könige des Waldes, sozusagen
Lylian & Drouin & Lorien (Ill.): Die Giganten
Mieras: Hanno und der Notfall
Muser: WEIL
Nielsen: Peanuts und andere Katastrophen
Orths: Crazy Family — Die Hackebarts räumen ab!
Peifer & Blatt & Kawamura (Ill.): Untenrum
Pla: Komische Vögel
Poferl: Aaah, diese Menschen!
Reed: Lea und Finn langweilen sich
Rickhoff: Keine Angst vor der Angst
Sad: Eine tierisch gute Idee
Sbuelz: Heute gehe ich nicht nach Hause
Schausberger & Tiefenbacher(Ill.): Muskel, Furz und Superkraft
Schneider & Golden Cosmos (Ill.): Ludwig und das Nashorn
Scheub: Der große Streik der Pflanzen
Schössow: Oskar Urlaubär
Spengler & Gehrmann (Ill.): Am Leuchtturm gibt es Erdbeereis
Timmers: Monstersee
Utnik & Agnieszka SozaĆska (Ill.): Das Buch der Düfte und Gerüche
Valckx: Benno, Fred
Vesco & Kerascoët: Mit Mantel und Worten
Vry & Lieb (Ill.): Der Dinosaurier im Fels
Wexberg (Hg.): Immer mal wieder zum Himmel schauen
Wertheim: Das Gänsespiel
Wiesmüller: Wenn Ritter träumen
Winderlich: Verwundbare Kindheiten
Zedelius: Fanni, Fuchs und Feuerwehr
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