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Alt, aber gut. Alt, aber gut?
Soll nicht jedes Kind Pippi Langstrumpf kennen?
(Unbedingt!)
Mit Hatschi Bratschi durch die Lüfte fliegen?
(Nein, danke. Unser Bedarf an durch Rassismus und Orientalismus geprägten Geschichten über geraubte und im Kochtopf der Eingeborenen zubereitete Kinder sollte gedeckt sein.)
Gehört es nicht zur Allgemeinbildung zu wissen, wer die Biene Maja ist? (Natürlich.)
Ach?
Da gibt es einen Roman dazu?
Ohne Willi?
Heidi Lexe
… ein Gastwirt im Nachbarort meiner Eltern begrüßt uns immer mit den Worten »Die `Schwalbe` fliegt über den Eriesee…«, wenn ich dort zu Besuch bin.
Tobias Krejtschi
Im KI-Zeitalter würde Pinocchio wahrscheinlich als Roboter oder künstliche Intelligenz dargestellt werden, der versucht, menschliche Verhaltensweisen und Emotionen zu verstehen und zu imitieren.
ChatGPT
Es ist lange überfällig, anderen, bisher weitgehend benachteiligten Stimmen – sowohl im Bereich der Literatur, als auch in Literaturwissenschaft und -kritik – eine größere Bühne zu bieten und Räume und Strukturen zu schaffen, die einen gesellschaftlichen Wandel auch mit Blick auf die Produktion und Rezeption von Kinderliteratur(-Klassikern) ermöglichen.
Claudia Sackl
Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. [...]
Johann Wolfgang v. Goethe
Inhalt
Die 1002. Seite
Tobias Krejtschi
ist Franz Lettner
Zwischen Nostalgie und Neu-Befragung
Kinderbuchklassiker postkolonial lesen
Oder: Warum Literatur(vermittlung) und Lektüre immer schon politisch sind Claudia Sackl
Weltliteratur weiter denken/h6>
Oder: Immer wieder: Goethe! Marlene Zöhrer
Michael Schmitt
Mensch werden: Pinocchio
Simone Kremsberger
Nochmal E.T.A. Hoffmann
Anna Stemmann über das gezeichnete fremde Kind
"Stanisläuse", "Wuschelkopf" und "Warten auf Godot"
Ernst Seibert zur Modernität von Vera Ferra-Mikura anlässlich ihres 100. Geburtstages
Packender Stoff
Tobias Krejtschi als Balladenillustrator
Die Widerspenstigkeit der Gezähmten
Sarah Auer über Comic-Adaptionen von Klassikern
Die Heilige Familie in Las Vegas
Oder: Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein Kathrin Wexberg
Über die literarischen (Körper-)Haltungen der Lilly Axster
Karin Haller
Antje Damm & Linda Wolfsgruber
sind zeitlos
"Drei Ziegenböcke namens Zack" von Mac Barnett & Jon Klassen
wurde in der grund_schule der künste gelesen
Liebe Leserinnen und Leser,
würden Sie sich auf den Sessel setzen, der so luftig auf dem Cover steht? Sieht eigentlich halbwegs gut aus. Deutliche Gebrauchsspuren, das schon, aber stabil. Ist ein alter Sessel gut, wenn man sich bedenkenlos auf ihn setzen kann? Wenn er also den Zweck erfüllt, für den er vor vielen Jahren gemacht wurde? Oder ist er in seiner ganzen Abgeschrammtheit reif für den Sperrmüll? Aber Vorsicht, es könnte nämlich ein Frankfurter Bugholzstuhl sein, entworfen von Ferdinand Kramer und hergestellt von der Firma Thonet. Dann wäre er nicht mehr nur ein alter Stuhl, sondern ein Klassiker und Designobjekt. Ich müsste ihn vermutlich respektvoll "Frankfurt Chair" nennen, könnte ihn im Internet verkaufen und mir vom Erlös so viele alte oder auch neue Frankfurter Sessel besorgen, dass ich ein ganzes Wirtshaus bestuhlen könnte. (Es ist kein Thonet, ich habe recherchiert. Ich betreibe auch kein Gasthaus.)
Nur weil etwas alt ist oder aussieht, muss es kein Klassiker sein. Und dann gilt es auch noch zu bedenken: Sitzt man auf einem original Frankfurter Bugholzstuhl wirklich gut? Immerhin wurde er in den 1930er Jahren für Schulen und Kindergärten getischlert (in verschiedenen Höhen) und ich glaube nicht, dass die Idee war, es Kindern möglichst bequem zu machen. Die sollten aufrecht sitzen und wach bleiben, um zum Beispiel etwas »Über Anmut und Würde« zu lernen. Ob diese Auseinandersetzung Schillers mit Kant damals zum Kanon gehört hat, also zu jenem Korpus an Texten, die man gelesen haben sollte oder musste, weiß ich nicht. Könnte aber an den Einrichtungen zur Erlangung der höheren Bildung der Fall gewesen sein. Über einen nur kleinen Umweg bin ich bei literarischen Klassikern gelandet. Jenen Büchern, die oft und über eine längere Zeit kanonisch genannt wurden, also Zeiten um Zeiten überstanden und auch damit zeitlose Gültigkeit erlangt haben.
Nun könnte man meinen, diese Sache hätte sich überlebt. In österreichischen Schulen gibt es keine halbwegs verbindlichen (und immer heiß diskutierten) Listen von literarischen Texten mehr, die man gelesen haben sollte. Sie wurden abgelöst von einem Kanon an Textsorten, deren sortenreine Beherrschung man im Zuge der Reifeprüfung beweisen muss. (Auch der gehört naturgemäß infrage gestellt: Ist der "Leserbrief" noch zeitlos gültig? Sollte man ihn nicht längst durch "Posting" ersetzen?). Dass Klassiker aber nicht gänzlich passé sind, zeigt ein Blick auf den Buchmarkt, wo immer wieder auf dieses Format gesetzt wird. So wie es unter Grafik-Designer:innen heißt: Rund funktioniert immer, so sind sich Verlage offensichtlich einig: Klassiker verkaufen sich. Weil sie zeitlos gültig sind. Und damit unabhängig von einer sich deutlich verändernden gesellschaftlichen Realität vermittelbar? Wird – um ein konkretes Beispiel zu nennen – "Der Räuber Hotzenplotz" mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner ersten Veröffentlichung immer wieder neu aufgelegt und adaptiert für Film, Funk und Bühne oder andere Buchformate (Erstlese-Reihe etwa oder Bilderbuch), weil Otfried Preußlers Geschichte zeitlos gültig ist? Was kann mir eine Kasperliade aus den 1960er Jahren über meine Gegenwart erzählen? Und wenn sie diesbezüglich nichts in petto hat, warum hat sie den Status als Kinderbuchklassiker nicht verloren? Wegen der Trägheit von Kanonisierungsprozessen? Wegen der nostalgischen Gefühle von Eltern und Großeltern? Weil sich die Geschichte daher gut verkauft? Ist der Stempel "Klassiker" nichts anderes als ein Label? Ist der Begriff "Klassiker" obsolet?
Fragen über Fragen, wenn man sich auf einen alten Stuhl setzt. Im Folgenden gibt es dazu Überlegungen und Antworten aus und in verschiedenen Richtungen. Dabei wird eine alte (und vergriffene) Ausgabe von 1001 Buch zitiert, kommen die Begriffe Weltliteratur, Postkolonialismus und Debattenkultur ins Spiel, werden die Modernität von Klassikern (Vera Ferra-Mikura!) und ihre Reinszenierung (von der Bibel über Pinocchio bis zu Roald Dahls "Hexen hexen") diskutiert. Und mit Tobias Krejtschi, der für die 1002. Seite einen weithin bekannten Insel-Hopper ins Bild gesetzt hat, kommt auch noch eine klassische Erzählform ins Spiel: Der Illustrator hat ein Faible für die Ballade.
Dass der Name Nöstlinger fällt, wenn es um "Klassiker" geht, wundert wenig. Dass eine Auszeichnung nach jener Autorin benannt ist, die 2003 zusammen mit Maurice Sendak als erste mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet wurde, passt perfekt zum Thema. Heuer wurde der Christine-Nöstlinger-Preis für Kinder- und Jugendliteratur Lilly Axster zuerkannt. Lesen Sie im Heft die Laudatio, die Karin Haller auf die in Wien lebende und arbeitende Autorin gehalten hat, in deren Literatur die Gegenwart auf allen Ebenen spürbar wird.
Was Sie dann noch lesen können, wenn Sie Zeit haben und bequem sitzen: viele Rezensionen aktueller Bücher. Naturgemäß sind keine Klassiker darunter. Aber vielleicht ein Buch, von dem man später sagen wird: Früher, als es noch einen Kanon gab, wäre dieser Titel jedenfalls ein Teil davon gewesen.
Kommen Sie gut in den Herbst, in dem ich Ihnen etwas über Luft und Liebe erzählen werde.
Franz Lettner
Debattenkultur'
Michael Schmitt
<p"Wir können die Vergangenheit neu interpretieren, aber wir können sie nicht ändern, die Arbeit von Historikern führt uns nie zu einer endgültigen Version dessen, wie die Dinge wirklich passiert sind." So resümiert der Journalist und Historiker Howard W. French seine Forschungen zur Geschichte der frühen Ausbeutung Afrikas und des Sklavenhandels im 16. Jahrhundert durch Portugiesen und afrikanische Sklavenhändler. Neue Quellen und Erkenntnisse bringen neue Fragen hervor, diese Fragen wiederum hängen von sich ändernden gesellschaftspolitischen Themen ab. Erkenntnistheoretisch dürfte das unstrittig sein, im tagesaktuellen Debattentrubel aber erscheint der traditionelle "Verstehensprozess" schnell als ein Umweg, vielleicht sogar als eine Ausrede, wenn es um moralisch begründete Urteile im kulturellen und gesellschaftlichen Tagesgeschäft geht, um Diskurshoheit oder auch um Ausgrenzungen im Dienst erwünschter Ziele.
Literatur und Literaturgeschichte sind davon nicht frei, denn sie sind – nicht nur, aber auch – Ausdruck von Verhältnissen und Denkmustern und begleiten Veränderungen, als deren langes Gedächtnis. Sie reagieren meist verzögert, aber sie hallen nach, wenn sie Fragen aufwerfen, die mehr als nur die Konjunktur einer einzigen hitzigen Debatte bebildern. Interessant wird dieser Effekt von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vor allem bei Büchern für junge Menschen, die sich ihre Lektüre oft noch nicht selbst aussuchen und kaufen können, sondern denen in der Schule oder von Eltern und Großeltern Bücher in die Hand gedrückt werden. Das sind oft Werke, die den Älteren Eindruck gemacht haben, und so entsteht jene asymmetrische Situation, die viele Diskussionen um Kinder- und Jugendbücher, aber auch um Schullektüren immer schon schwierig gemacht hat: Was wird jungen Menschen auf diesem Weg vermittelt, welchen Ballast schleppen Kulturgüter mit sich, was haben die alten Fragen mit den neuen gesellschaftlichen Bedingungen noch zu tun?
Die schrillen Töne, die spätestens seit den neunziger Jahren die Kritik oder die Veränderungen an kinderliterarischen Klassikern der Moderne, genauer der Nachkriegsjahrzehnte kommentieren, entzünden sich derzeit meist nicht mehr an Büchern, die durch "schwarze Pädagogik" oder ideologische Prägung, etwa durch nationalsozialistische Ideologeme diskreditiert wären. Wenn u.a. Texten von Astrid Lindgren, Otfried Preußler oder Michael Ende vorgehalten wird, beispielsweise lange tradierte rassistische Vorurteile zu transportieren, dann trifft das Bücher, …
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Aakeson & Bregnhøi: Hugo & Hassan
Amal: Die ungeduldigen Frauen
Anger-Schmidt & Habinger: Tut nimmer weh!
Anlauf & Konstantinov: Geniale Nasen
Applegate: Willodeen
Baum & Piu: Die Gruselstraße
Bertram & Hellmeier: Mega streng verboten
Barnett & Klassen: Drei Ziegenböcke namens Zack
Baus & Haag: Das große Buch vom Apfelbaum
Black: Elfenerbe
Blum: Kollektorgang
Bittel & Woodward: Tiere
Brunz & Fritz: Unsere heimischen Bäume
Carozzi & Cali: Der Tag der Wale
Charlton: Wranglestone
Crameri: Alula
Damm: Frag mich!
Damm: Was passiert denn da?
Dåsnes: Hände weg von unserem Wald
Davies: Mythen, Monster und Machtkämpfe im alten Griechenland
Desjardins & Dion: Die Wale und wir
Eyb-Green: Kunst!
Gieselmann & Dreis : Was macht die Nacht?
Hach: Fred und ich
Halvax: Wimmelbuch Österreich
Hare: Alfonso geht angeln
Heijnis: Skaterherz
Henry: Gideon Green
Hub: Arschbombe verboten
Jäger & Hundt: Nach vorn, nach Süden
Joris & Scuderi: Der kleine Tannenkönig
Kparimé & Habinger: Minu und der Geheimnismann
Krishnaswami & Corr: Zwei auf dem Everest
Kuyper & te Loo: Maantje und das Eichhörnchen
Lemire & Bregnhøi: Mira
Lieb: Kapitel 2 ist weg!
Lin: A Magic Steeped in Poison
Manneh: Ab in die Berge
Meyer, Wulff & Leykamm: Wie rettet man Kunst?
Mohl u.a. (Hrsg.): Schön sind Wörter, die einfach sind
Morosinotto: Die dunkle Stunde des Jägers
Mourlevat: Jefferson tut, was er kann
Nilsson: Krähes wilder Piratensommer
Ofer: Willst du tanzen?
Palacio: White Bird
Polle
Scharmacher-Schreiber & Lieb: Wir Menschen und das Meer
Schenker: Auditives Erzählen
Smatana: Kompostfranzi
Sharif & El Kurdi: Ey hör mal!
Sloan: Elefantensommer
Stanišić: Wolf
Stavarič & Ganser: Faszination Qualle
Stickley & Hopgood: Die Erde und du
Tellegen & Scheffler: Briefe vom Eichhorn an die Ameise
Walliams: Fing
Wang: Der Prinz und die Schneiderin
Wheatle: Cane Warriors
Wildner: Moritz, King Kong und der Regentanz
Willmann: Ganz oben fliegt Lili
Winn: Durch das große Feuer
Wolfsgruber: Wir
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