Liebe Leserinnen und Leser,
Ohne Luft [und Liebe] geht gar nichts. Sie macht Leben auf unserem Planeten erst möglich. Vom ersten Atemzug an sind wir auf sie angewiesen. So selbstverständlich ist sie uns, dass wir sie nicht mal sehen müssen, um zu wissen, dass es sie gibt. Wenn sie sich bewegt, können wir sie als jenen Wind spüren, der durch das ganze Heft weht. Etwa auf dem Herbstspaziergang, den Lili Mossbauer auf der 1002. Seite inszeniert, Blätter, Haare, Tücher und eine Mütze in Bewegung bringt.
Woran erkennt man, ob sich Luft bewegt? Ob sie nicht doch auch sichtbar gemacht werden kann und wenn ja, welche Farbe sie dann hat, diese Fragen beantwortet Silke Rabus. Klar wird schnell: Je stärker der Wind weht, umso mehr Auswirkungen hat das auch in der Literatur. Ela Wildberger hat das nachgeprüft. Furchtlos ist sie in ein Boot zu einem Bären gestiegen, der seine Zuversicht auch dann nicht verliert, wenn unvorhergesehene Strömungsverläufe zu fragwürdigen Kursanpassungen und heftige Winde zu einem Schiffbruch führen. Bemerkenswert, dass sie in dieser Situation noch in der Lage war, zahlreiche Bücher zu lesen, deren Autor:innen ihre Figuren mitten hinein ins Auge des Sturms setzen.
Redet man über Luft, ist man auch schon ganz nahe bei den Vögeln. Jenen Lebewesen, die oft schon in kleinen Kindern die Sehnsucht danach wecken, abzuheben und zu fliegen. Was Kinder über Vögel wissen müssen, damit sie Bilderbücher verstehen, in denen Vögel in der Luft sind, erzählt Ihnen Andrea Kromoser. Ich kann vorwegnehmen: nicht das Fliegen. Ein Mensch ist ohne Hilfsmittel dazu nicht in der Lage. Außer er ist ein echter Luftikus. Zu ihnen zählt Nicole Kalteis nicht nur Karlsson vom Dach und Peter Pan, sondern auch die heimische Omama im Apfelbaum. Was diese drei Großen der Kinderliteratur gemeinsam haben: Sie sind leicht wie die Luft und flüchtig wie der Wind.
So wenig wie wir gewöhnlichen Menschen fliegen können, können wir von Luft und Liebe leben. Auch wenn wir manchmal vom Gegenteil überzeugt sind. In Phasen heftiger Verliebtheit etwa, wo an Essen nicht zu denken ist. Kitschverdacht? Auf jeden Fall! Alexandra Hofer hat »Love is in the Air« von John Paul Young auf Dauerschleife gestellt und über Verliebte gelesen. Und Christina Pfeiffer-Ulm ist ganz nah rangegangen und hat ihnen beim Küssen zugesehen. Danach muss man erst mal wieder zu Atem kommen. Dazu empfehle ich den Text von Sarah Jäger. Gefragt, wie das ist mit dem Tempo machen beim Erzählen, hat die Autorin einen kleinen Beitrag über ihre Erfahrung beim Laufen geschickt. Da kann man jedenfalls was lernen, fürs Rennen wie fürs Schreiben. Wenn es um das Schreiben von Gedichten geht, ist Nils Mohl Fachmann. In seinem Text gibt er Auskunft darüber, warum er so gern Luftlöcher in die Wirklichkeit dichtet. En passant – und nicht beleidigt, sondern erstaunt – beklagt er darin auch, dass Lyrik so oft wie Luft behandelt wird. Bei uns nicht. Und deshalb wird der Lyriker Michael Hammerschmid künftig unter dem Titel »denk mal gedichte!« in jeder Ausgabe von 1001 Buch über eben jene nachdenken, orakeln, schreiben.
Gedichtbände (u.a. einer von Nils Mohl) sind natürlich auch unter den rezensierten Büchern. Neben weiteren Herbstneuerscheinungen für jedes Lesealter und viele Leseinteressen finden Sie zudem Titel zu zwei Themen gebündelt: Simone Kremsberger hat Bücher über Bäume gelesen; Marlene Zöhrer analysiert, mit welchen Erzählstrategien in aktuellen Sachbüchern versucht wird, Kindern Krieg zu erklären, Ursachen zu benennen, Zusammenhänge herzustellen.
Dass auch wir Angehörigen der "ancient and international nation of stories and of words" nicht von Luft und Büchern leben, ist ja klar. Dass letztere aber so nötig sind wie die Luft zum Atmen, hat A. L. Kennedy jüngst bei ihrer Eröffnungsrede der Buch Wien 2023 schön und nachdrücklich formuliert. Sie erzählte von jenem Sonntagmorgen in ihrer Kindheit, an dem ihr klar wurde, dass sie lesen kann: "… suddenly I realised – I can pick up any book in this house and have it, put in my mind, add it to myself, explore its world, its universe, be people other than myself, be completely free. I thought I had only one world, but I have so much more." Bücher, so die schottische Autorin, sind Orte, an denen wir uns sicher fühlen, glücklich sein können, Bücher helfen uns zu verstehen, was wir alles werden können, sie lehren uns Empathie.
In diesem Sinne: Bleiben Sie uns gewogen.
Franz Lettner
Luftlöcher in die Wirklichkeit dichten
Nils Mohl über den Spaß am Spinnen, am Spielen und am Staunen
Nennen wir die Sache ruhig den Hildegard-von-Bingen-Test. Zur Erklärung, denn auch die Älteren unter uns erinnern sich vermutlich nur noch sehr schwach: Es gab Zeiten, da ließen sich mit vier Elementen Mensch und Welt erklären.
Erde, Feuer, Wasser, Luft.1
Würde mein lyrisches Ich sich für eins dieser Elemente entscheiden müssen, um sich selbst zu erklären, fiele die Wahl ziemlich sicher auf die Luft.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Sie alle haben etwas mit der Art zu tun, wie meine Gedichte entstehen. Daran ist wenig Geheimnisvolles. Zumindest behaupte ich das, wenn ich mit Lyrikprogrammen vor Publikum, meist ja Schulklassen, auftrete. Ich erzähle dann, Dichterinnen und Dichter brauchen vor allem Spaß am Spinnen, am Spielen und am Staunen. Und wer weiß, vielleicht ist das wirklich schon fast alles.
1. Ideen aus der Luft greifen – das Spinnen.
Bei der Entstehung eines Gedichts hilft mir oft ein Reim. Lyriker von Format und Klasse erkennen heute im Reim wahrscheinlich tendenziell eher etwas Gestriges oder Vorgestriges, vielleicht auch einfach Kindisches.
Familienfeste, wo Angehörige und Zugehörige ungebeten holprig und exzessiv reimen, setzen einer Menge Menschen zu. Ebenso Karnevalsreden. Keine Frage: Wenn Erwachsene reimen, droht Peinlichkeit.2
Das ist nichts Neues: Der zweifelhafte Ruf des Reims rührt wahrscheinlich nicht zuletzt daher, dass Reime schnell langweilen, wenn sie zu häufig benutzt werden – das Herzschmerz-Phänomen.3 Ein abgedroschener Reim ist das Gegenteil von poetisch. Abgedroschene Reime sind leicht zu haben. Die Reimerei wirkt einfach, gleicht aber tatsächlich eher der Bernsteinsuche. Es braucht Geduld, um in der Sprache auf seltene Reim-Reichtümer zu stoßen. Aber in einem spannenden Fund steckt dann oft etwas wie ein eingeschlossenes Insekt, eine einmalige Entdeckung.
…
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Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Andres: Mäuseparty Kuchenbär
Angel: Tage-b-b-buch eines Überfliegers
Axster: Ich sage Hallo und dann NICHTS
Balen: October, October
Blesken: Hasenherz
Bogart & Kastelic: Anton und der Gargoyle
Bracken: Lore
Buchart & Mossbauer: Was uns der Wind erzählt
Chakanetsa & Alabi: Afrika
Coppo: … aber wo ist die Geschichte?
Coste: Der Schleuser
Dillinger& Drerup & Knobloch& Nielsen-Sikora: Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger
Einhorn & Druvert: Pflanzen
Einhorn & Druvert: Wolken, Luft und Sterne
Ellis: Sonne an dunklen Tagen
Ernst & Sacher & Stephani: Robin Ruhelos
Gathen & Kuhl: Radieschen von unten
Gorelik: Detektiv Samson
Gusella: Wolkentiere und Quadrat
Huppertz: Fürs Leben zu lang
Ito: Kind zu verschenken
Kecir-Lepetit & Maupetit: Magie der Blumen / Magie der Vögel
Klassen: Der Totenkopf
Kling: Das Klugscheißerchen
Kordon: Krokodil im Nacken
Lieber & Braun: Zu Hause bei den wilden Tieren
Litwina & Desnitskaya: Alle einsteigen
Lo: Last night at the Telegraph Club
Lohse: Das Summen unter der Haut
Martins & Carvalho: Hallo Wind. Hallo Sonne
Michaelis: Scheißglitzertage
Mohl & Greve: Tierische Außenseiter
Offredo: Japan Yahho!
Ørbeck-Nilssen & Torseter: So dunkel!
Otero: Naphthalin
Poznanski: Oracle
Quitterer: Pepe und der Oktopus
Rautenberg & Erlbruch: Mut ist was Gutes
Rautenberg & Budde: Dieser Tag ist mein Freund
Rottmann: Kurz vor dem Rand
Sacher & Stephani: Ennio Empfindlich
Sacher & Stephani: Kaya Kompliziert
Schäuble: Godland
Schirneck: Die Abenteuer des Konrad Frühling
Scott & Smith: Der Garten meiner Baba
Sharp: Der Wolfspel
Sisteré: Das geheime Leben der Zähne
Tian: Hier ist es immer noch schön
Veerkamp & Verstegen: Bär ist nicht allein
Vendel & Elman: Mischka
Waechter: Weltreise mit Freunden
Wahl: 22 Bahnen
Wolfsgruber: Ein Kleid für den Mond
Wolfsgruber: sieben
Yang: American Born Chinese
Zabus & Nicoby & Gaarder: Sofies Welt
Zahn & Hesse: Was ist Künstliche Intelligenz?
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