2|24
Literatur. Ausgerechnet?
Es erscheint fast widersprüchlich, geometrische Zeichen zur Darstellung von menschlichen Befindlichkeiten einzusetzen. Und doch zeigen das einige Bilderbücher in beeindruckender Weise.
Friedrich C. Heller
In der literarischen Ménage-à-trois sind tatsächlich aller guten Dinge drei, woran auch die obligatorische Subtraktion (-1) zum Happy End nichts ändert.
Manuela Kalbermatten
Sind wir wirklich immer sofort am Zählen oder Rechnen, sobald Zahlen auftauchen? Können wir gar nicht nicht rechnen?
Andrea Kromoser
Ich kann reinen Herzens sagen: Hier zählt der Autor noch selbst.
Nils Mohl
Die Acht ist das Schönste, was ich kenne. Alle Zahlen sind schön, aber die Acht ist perfekt.
Nikola Huppertz
Die kleinste Beschränkung auf einen Handlungsradius ist vermutlich die Fokussierung auf den eigenen Körper.
Anna Stemmann
Inhalt
Die 1002. Seite
Gemma Palacio
ist Franz Lettner
Poesie der Geometrie
Überlegungen zur Verwendung geometrischer Formen in Bilderbüchern von Friedrich C. Heller
Manuela Kalbermatten über Dreiecksbeziehungen in der Jugendliteratur
Geht die Rechnung auf?
Andrea Kromoser über die Inszenierung von Ziffern und Zahlen in Bilderbüchern
Sieben auf einen Streich
Nils Mohl und Heidi Lexe im Gespräch über arithmetische Textstrukturen
Die Formel des Lebens
Simone Kremsberger über Bücher mit nerdigen Protagonist:innen
Kleiner Handlungsradius
Anna Stemmann
denk mal gedichte!
Michael Hammerschmid
Eine Frage des Formats
Martin Reiterer über Seitenarchitektur im Comic
Vom Urknall zum Haustier in 7 Tagen
Heidi Lexe über die Entstehung der Welt
Beschreiben wie es ist …
Lilly Axster
Froschkönig reloaded
Petra Piuk im Gespräch
Von Raum zu Raum
Franz Lettner über Tiere in Stadt & Buch
Hallo? Hallo!
Lilly Axster
Lena Raubaum & Tobias Krejtschi
sind zeitlos
"Die Blumenfrau" von Anne-Christin Plate
wurde in der grund_schule der künste gelesen
Liebe Leserinnen und Leser,
Literatur ist – noch – nicht berechenbar. Auch wenn immer wieder jemand sie auf eine Formel bringen will. Für ihr Buch "The Bestseller Code: Anatomy of the Blockbuster Novel" (2016) haben etwa die Wissenschaftler:innen Jodie Archer und Matthew L. Jockers mehr als 20.000 Bücher durch ein ausgetüfteltes Computerprogramm geschickt, um die Gemeinsamkeiten von Bestsellern herauszufinden. Die daraus abgeleiteten Grundsätze – inhaltlich muss es menscheln, stilistisch soll es einfach bleiben – sind hier von mir unverantwortlich grob und maximal vereinfachend zusammengefasst. Aber, was soll ich sagen – obwohl manche potentiellen Autor:innen und Verleger:innen den »Bestseller Code« vermutlich gelesen haben, werden immer noch genausoviel Titel publiziert, die keine Blockbuster werden, wie zuvor.
Zugegeben, Künstliche Intelligenz hat sich seither massiv weiter entwickelt. In vielen Bereichen werden Texte längst mit Hilfe unterschiedlicher Tools für eine KI-gestützte Textproduktion mehr oder weniger automatisch erzeugt. Und es ist grundsätzlich denkbar, dass die KI irgendwann auch einen literarischen Bestseller schreiben wird. Davon ist sie jedenfalls selbst überzeugt. Sie könne, meint Chat GPT auf Nachfrage, "eine technisch perfekte Geschichte" schreiben, "fehlerfrei in Grammatik, Struktur und Stil", sowie Themen und Handlungsbögen erfinden, die vermutlich Vielen gefallen. Aber komplexere Charaktere mit emotionaler Tiefe könne sie jetzt noch nicht ausrechnen, mit einer nuancierten Sprache hätte sie auch so ihre Probleme und, genau, Originalität, puhh. Weil natürlich könne eine KI alles auslesen, womit man sie füttere, siehe "Bestseller-Code", aber daraus "etwas völlig Neues und Innovatives zu schaffen" sei noch Zukunftsmusik.
Bis es so weit ist, machen wir in der Auseinandersetzung mit Literatur so weiter wie bisher: leidenschaftlich, kreativ und mit all der Erfahrung, die wir haben. So fällt einem zu Literatur und Mathematik auch abseits von computergestützten Makroanalysen einiges ein.
Meinen liebsten Satz aus der Schnittmenge der beiden Gebiete legt übrigens Nikola Huppertz ihrem knapp 13-jährigen Protagonisten Malte in den Mund: "Die Acht ist das Schönste, was ich kenne. Alle Zahlen sind schön, aber die Acht ist perfekt." ("Schön wie die Acht", Tulipan 2021) Malte ist eine jener Figuren, die versuchen, ihrem Alltag und der Welt mit Zahlen Herr zu werden. Das gelingt nicht immer, manchmal bringt aber auch so einen wie Malte die Poesie ein Stück weiter.
Unmittelbar klar wird die Schönheit von Zahlen natürlich in Bilderbüchern über das Zählen. Da wird ein-, ab- oder ausgezählt. Und die Leser:innen können alles mögliche nachzählen, etwa die Anzahl von Hasenohren. Nicht zum Zählen, sondern zum Staunen bringen jene Buchkunstwerke, deren Illustrationen auf geometrischen Formen beruhen. Abstraktion, Reduktion und Transformation sind die wichtigen Methoden eines Erzählens, das eine lange Tradition und viele Spielarten hat. Überraschend, wie vergnüglich es sein kann, wenn Kreise und Dreiecke zu tanzen beginnen.
Oder Figuren aus dem vorgegebenen Rahmen fallen. Den im Comic die Seitenarchitektur, die Anordnung der Panels und Zwischenräume bildet. Die Kunstfertigkeit von Erzähler:innen zeigt sich auch am Umgang mit den Regeln des Mediums. Regelbrüche können sehr effektiv sein. "Poetische Überraschungsmomente" nennt sie Nils Mohl. Der beim Schreiben auch zählt, aber keine Ohren, sondern Kapitel, Takte oder Silben. Es helfe ihm beim Erzählen, meint er, und: "Was sollen Schriftsteller auch sonst zählen? Geld? Davon hat unsereins meist nicht viel, das bringt dann nicht so richtig Spaß."
Das führt mich direkt zum Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2024, der im Mai in Eisenstadt verliehen wurde. Und zwar nicht von einer KI, die alle Bücher zusammengerechnet und dann wieder auseinander dividiert hat, sondern von einer Jury mit Erfahrung und Kenntnis, die leidenschaftlich über die eingereichten Bücher diskutiert hat. 1001 Buch gratuliert allen Preisträger:innen und ihren Verlagen. Und präsentiert Beiträge zu den vier ausgezeichneten Titeln: Lilly Axster und Petra Piuk erzählen über den Entstehungsprozess ihrer Bücher, Michael Hammerschmid schnappt in seiner Kolumne nach Luft, seinen Tiergedichten ist zusätzlich ein bisschen Raum gewidmet; Linda Wolfsgrubers Schöpfung wird mit einem großen Knall in Verbindung gebracht und Gemma Palacio hat die 1002. Seite für diese Ausgabe gestaltet. Als Bonustrack ist jene Rede abgedruckt, in der sich Lilly Axster im Rahmen der Preisverleihung im Namen aller Ausgezeichneten direkt bei den anwesenden Schüler:innen bedankt hat.
Wer im nächsten Jahr den Spaß hat, das Preisgeld zu zählen, weiß ich natürlich nicht. Gut möglich, dass der eine oder andere aktuell begeistert rezensierte Titel dann ausgezeichnet wird. Sie können sie jetzt schon lesen, sich Ihre eigene Meinung bilden und vielleicht das eine oder andere Buch jenen Menschen als sommerliche Lektüre antragen, für deren literarische Verköstigung Sie mitverantwortlich sind.
Von mir hören Sie dann wieder am Anfang des Herbstes, der jedenfalls in 1001 Buch sehr bewegt sein wird
Franz Lettner
Schon immer gab’s für mich nur euch beide
Manuela Kalbermatten über Dreiecksbeziehungen in der Jugendliteratur
Weil in der literarischen Ménage-à-trois tatsächlich aller guten Dinge drei sind, woran auch die obligatorische Subtraktion (-1) zum Happy End nichts ändert, gibt’s hier zuerst drei "Dreiecksgeschichten". Es folgt der Versuch, das Knäuel geschlechtertechnisch aufzudröseln.
Immer mehr als zwei. 2007.
Blick in ein Schlafzimmer. Auf dem Bett, das, in warmes Licht getaucht, den Bildvordergrund dominiert, fläzen sich in zärtlicher Intimität zwei nackte junge Männer. Die drei weiteren Herren im Raum scheinen sie in ihrer Zweisamkeit nicht zu stören, was selbst unverklemmten Geistern schräg vorkommt: Immerhin ist der erste Herr, er scheint der häusliche Typ zu sein, mit dem Staubsauger zugange. Während die Bildebene den Blick mit normschönen Körpern fesselt (Herr 2 inspiziert beim Hanteltraining seine Oberarme), mit der Figurendynamik aber irritiert, klärt die verbale Ebene den Sachverhalt – "Falls die Vergangenheit Ihre Beziehung stört" – und erfüllt einen erzieherischen Auftrag: "check-your-lovelife.ch." Das fast allen vor und um 2000 geborenen Schweizer*innen vertraute Logo des Kondoms mit dem Schriftzug "Love Life. Stop Aids" komplettiert das Arrangement. Die clever komponierte HIV-Präventionskampagne demonstriert, worum es auch in aktuellen Liebesgeschichten für Jugendliche oft geht: Liebe und Sex sind großartig (und unbedingt erstrebenswert!), aber vor der Beziehung ist nach der Beziehung und umgekehrt. (Fast) jede Liebesgeschichte ist eine Dreiecksgeschichte, denn die Vergangenheit ist, nicht nur im Bett, stets die Gegenwart der Liebe: Sie lebt in Gestalt verlassener oder abtrünniger Ex-en (Herr 3 checkt schon die Garderobe) weiter und kann die neu Verliebten jederzeit heimsuchen, um vor allem der Romance-Heldin im Jugendroman viel Schmerz zu bringen. "Check your lovelife" ist darum hier weniger ein Aufruf, sich regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten zu testen, als sein Liebesleben gut zu managen: klug zu wählen, an sich zu arbeiten und Entscheidungen konsequent zu reflektieren. Dazu verspricht Romance, so die These der Soziologin Eva Illouz (2014), im Zeichen gegenwärtiger "self-help-culture" durchaus Rat und Anleitung.
Den ganzen Beitrag können Sie in 1001 Buch 1|24 lesen. Als Abonnent*in auch online direkt hier auf dieser Website
Aktuelle Neuerscheinungen
Folgende Titel werden in dieser Ausgabe von 1001 Buch besprochen:
Abadía: Strand
Angel: Ein Zimmer für mich allein
Angel: Neue Heimat 1404
Arnd Zeiglers wunderbares Fußballbuch
Blazon: Laqua
Boie: Gangster müssen clever sein
Bohnke: Japan
Bond & Völk: Die Raupe spinnt
Bones & Palmtag: Hast du Zeit?
Brubaker Bradley: Gras unter meinen Füßen
Bryon: Diebin
Curtis: Die Watsons fahren nach Birmingham — 1963
Däumer: Verboten
Dimitrova: Kanak Kids
Droop: Echt das Leben
Droop: Ich kann von Glück reden
Escoffier & Maudet: Schöne Ferien, Palomino
Fadejewa: Wasser
Franz: Goldene Stein
Fußball verrückt
Gansel: Kind einer schwierigen Zeit
Gecko. Die Bilderbuchzeitschrift
Göbel & Peter Knorr: Ab in die Ferien
Goldblatt & Acton: Das Fußball-Buch
Habinger: Lesen ist schön
Haeringen: Norman, ein ganz normaler Riese
Holm & Markhus: Die größte Zahl der Welt?
Iland-Olschewski & Hahn: Fußball
Jäger: Und die Welt, sie fliegt hoch
Janisch & Weinmann: Ich war ein unruhiger Kopf
Köhler: Himmelwärts
Kooij: Niemand so wie ich?
Korman: The Fort
Kozinowski: WAS IST WAS Fußball
Kroon: Gurke und die Unendlichkeit
L´Arronge: Tonis Tag
Langer: Schneekinder
Leeuwen: Ich bin hier!
Leyh: Snapdragon
Maar: Die Tochter der Zauberin
Majewski: Brücken
Marton: Hausmonster
Miecznicka & Ludwig: Toni sieht alles!
Noort: Das kleine Haus am Fluss
Oberholzer: Games
Parvela: Die Schatten
Pinel: Sommer auf der Fahrradinsel
Plate: Die Blumenfrau
Polle 10
Radtke: Eine Reise in die Einsamkeit
Raubaum & Krejtschi: Ungalli
Rørvik: Fuchs & Ferkel
Schnabel: Der große Wurf
Schäuble: Die Geschichte der Israelis und Palästinenser
Schoenborn & Arriagada-Nunez: Das ist kein Dinosaurierbuch!
Spreckelsen: Otfried Preußler
Thomas: Nic Blake
Uschmann & Witt: Ziemlich zappenduster
Vachl: Nils Mohl
Vendel & Smeets & Goede: Mathe fürs Leben
Völk: Kleine Schwester, große Schwester
Wattin: Davids Dilemma
Zamolo: Und dann noch …
Die Besprechungen können Sie als Abonnent*in online direkt hier auf dieser Website lesen