Inhalt 
1002. Seite
Von Mehrdad Zaeri
Von Franz Lettner
Hajnalka Nagy über Bilder und Vorstellungen von Flucht und Migration in der Kinder- und Jugendliteratur
Einfach rüber auf die andere Seite
Susan Kreller über Boote und Schiffe in der Kinder- und Jugendliteratur
Grenze3
Peter Rinnerthaler über Fluchtprozesse in Bilderbuch und Graphic Novel
M wie Mehrdad, Zaeri von A bis Z
Von Peter Rinnerthaler
Bindestrich-Existenzen oder »Ich war der Vielen-nicht-ähnlich-Mensch«
Von Caroline Roeder
Papa oder Peergroup
Nadine Seidel über Romane über jugendliche Migrantinnen
Die Geschichte einer Selbstermächtigung
Daniela Strigl über »Dazwischen: Ich« von Julya Rabinowich
Luna Al-Mousli: Leben im Dazwischen
Die Autorin im Gespräch mit Franz Lettner
Ich möchte mich falten wie Papier
Heidi Lexe über »die Nacht der Falter und ich« von Elisabeth Steinkellner und Michaela Weiss
Kinder- und Jugendliteratur – ein leichtes Spiel?
Ein Kommentar von Julya Rabinowich
Den Fahrschein bitte!
Franz Lettner fährt mit Julie Völks kleiner Straßenbahn durch die Stadt
Zur Sache: Typisch grenzenlos
Marlene Zöhrer über das zeitgenössische Sachbuch
& Besprechungen aktueller Neuerscheinungen
Liebe Leserinnen und Leser,
65 Millionen Menschen haben 2015 Asyl gesucht, waren auf der Flucht oder binnenvertrieben. Das ist eine abstrakt hohe Zahl. Man kann sie anschaulicher machen: Das ist jeder 113. Mensch auf der Erde. Oder: Knapp so viel wie die gesamte Bevölkerung Frankreichs ausmacht.
»Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu geniessen.« Das ist Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wie immer, wenn man zu markanten Sätzen geronnene Ideale ausspricht oder niederschreibt, schwingt – unvermeidlich – Pathos mit. Wer sich auf den Artikel 14 beruft (der keine Rechtsverbindlichkeit hat), drückt ein emphatisches Verhältnis zur Erklärung der Menschenrechte aus.
Kinder- und Jugendliteratur ist pathetisch und emphatisch: Sie nimmt den Artikel 14 der Grundrechtserklärung maximal ernst. Sie hinterfragt in ihren Erzählungen grundsätzlich nicht den rechtlichen Status einer Figur. Sie erzählt von der Not der Asyl Suchenden, von den Gründen und den Strapazen ihrer Flucht, von den Schwierigkeiten bei ihrer Ankunft im Asylland und den Problemen der Integration in dessen Gesellschaft. Sie fordert Verständnis für die ProtagonistInnen und will so Verständnis generieren. Sie tut das, indem sie individuelle Schicksale von Kindern und Jugendlichen und deren Familien inszeniert. Bilderbücher, Kinderbücher und Erzählungen oder Romane für Jugendliche stellen in der Regel nicht zur Diskussion, ob ein Protagonist oder eine Protagonistin Recht auf Asyl im Sinne der Genfer Flüchtlingskommission hat. Oder ob jenes Land, in dem sie Asyl suchen, in der Lage ist, sie aufzunehmen. Kinder- und Jugendliteratur geht nicht nur davon aus, dass die angestammte Bevölkerung das schaffen will und kann, sie will diese Auffassung den jungen LeserInnen auch vermitteln. Das alles hat Konsequenzen für die Erzählungen. Damit setzen wir uns in dieser Ausgabe von 1000 und 1 Buch auseinander.
Am Beginn steht ein grundsätzlicher Beitrag von Hajnalka Nagy, die das Spektrum der gegenwärtig in großem Ausmaß erscheinenden Flucht- und Migrationsgeschichten in den Blick nimmt. Sie stellt deren Konzepte über Migration und Fremdheit in ein Verhältnis zu älteren diesbezüglichen literarischen Texten und verschiedenen Erzähltraditionen. Und fragt nach den Möglichkeiten, die Kinder- und Jugendliteratur hat und nutzen will: Orientierung schaffen, für Irritation sorgen, tradierte Konzepte hinterfragen, neue Sichtweisen schaffen.
In den weiteren Beiträgen rücken einzelne Aspekte und ästhetische Fragestellungen in den Fokus. Peter Rinnerthaler hat in den Genres Bilderbuch und Graphic Novel nach Fluchtgeschichten gesucht und sich einige davon genau angesehen. Ausgangspunkt, Reise und vor allem Grenzerfahrungen und ihre Darstellungen in Bild-Text-Medien stehen im Mittelpunkt.
Nadine Seidel hat Bücher gelesen, in denen die besonderen Herausforderungen, die an jugendliche Migrantinnen gestellt werden, zur Sprache kommen. Weil der weibliche Körper oft zur Projektionsfläche moralischer und religiöser Rigorismen wird, verschärfen sich auch die Konflikte, die im Prozess adoleszenter Ablösung von den Eltern ohnehin ausgehandelt werden müssen, In Caroline Roeders Beitrag stehen zwei Jugendromane im Mittelpunkt der Betrachtung, die ein Phänomen der deutschen Gegenwartsliteratur widerspiegeln: Frauen, die ihre literarischen Werke auf Deutsch verfassen, obwohl ihre Erstsprache aus einem anderen Sprachraum stammt, und die ihnen autobiographische Bezugnahmen einschreiben. Sie sind, wie ihre HeldInnen, Bindestrich-Existenzen.
Eine solche ist auch Mehrdad Zaeri, 1970 im Iran geboren, Mitte der 80er Jahre nach Deutschland migriert, wo er seitdem lebt und arbeitet. Von ihm stammt die 1002. Seite. Peter Rinnerthaler hat den großartigen Illustrationskünstler durchalphabetisiert.
Nicht hauptsächlich auf das Thema Flucht und Migration fokussiert ist Susan Krellers Geschichte über Boote und Schiffe in der KJL. Dass Boote auf dem Mittelmeer und zurückgelassene Schwimmwesten ikonographischen Charakter angenommen haben, hat diesen Beitrag angeregt, der aber ganz andere Erzählungen miteinbezieht. Manche Figuren, die in einem Boot sitzen, wollen ja auch einfach nur rüber auf die andere Seite.
Ein weiterer Teil dieser Ausgabe ist dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis gewidmet. Sie finden die Preisbücher und jene, die in die Kollektion aufgenommen wurden, auf dem beiliegenden Folder. Dass mehrere ausgezeichnete Bücher zum Thema passen, ist kein Zufall. Es ist eben dringlich. Lesen Sie eine ausführliche Besprechung von Julya Rabinowichs »Dazwischen: Ich« von Daniela Strigl sowie einen Kommentar der Autorin zum Erfolg ihres Jugendbuchdebüts. Dieses Buch spielt im Übrigen, wie auch das Bilderbuch »Flucht« von Niki Glattauer und Verena Hochleitner aus der Kollektion zum Preis, mehrfach in Magazinbeiträgen eine Rolle. Mit Luna Al-Mousli, der Autorin von »Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus«, haben wir über ihr Leben und die Entstehung des ausgezeichneten Buchs gesprochen. Auch zu den weiteren beiden Preisbüchern – Julie Völks »Guten Morgen, kleine Straßenbahn!« und Elisabeth Steinkellners »die Nacht der Falter und ich« – finden Sie ausführliche Besprechungen.
Genug Platz ist natürlich für die Rezensionen von Büchern aus dem Frühjahr geblieben: Wir haben wieder knapp 70 Titel ausgewählt und für Sie gelesen. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei. Der ist dann auch Thema der Sommerausgabe von 1001 Buch. Bis dahin wünschen wir eine gute Zeit.
Franz Lettner
Im Niemandsland
Hajnalka Nagy über Bilder und Vorstellungen von Flucht und Migration in der Kinder- und Jugendliteratur
Zu Fuß, im Lastwagen, auf Zügen oder im Schlauchboot. Mit Fremden, mit FreundInnen, allein oder mit Kind und Katze. Angekommen, aufgenommen oder wieder abgeschoben. Die Bilder über die Schicksale sind viele, wie auch die über die Wege. Was wir aus Statistiken wissen: 2015 waren mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht und die Hälfte davon waren Kinder und Jugendliche (vgl. Webseite UNO Flüchtlingshilfe). Im letzten Jahrzehnt hat sich nicht nur die Zahl der flüchtenden Menschen beinahe verdoppelt, auch die Zahl der Romane über Flucht, Vertreibung und Migration hat enorm zugenommen. Der Kinder- und Jugendliteraturbuchmarkt boomt, und das mit einer bemerkenswerten Formenvielfalt: Bilderbücher (»Akim rennt«, »Bestimmt wird alles gut«, »Alle da«), Graphic Novels (»Ein neues Land«, »Unsichtbare Hände«, »Der Traum von Olympia«), Schulgeschichten (»Mein Freund Salim«, »Der unvergessene Mantel«), Road-Movies (»Train Kids«, »Hesmats Flucht«), autobiographische Geschichten (»33 Bogen und ein Teehaus«, »Plötzlich war ich ein Schatten«) und biographische, auf Reportagen basierende Erzählungen (»Checkpoint Europa«, »70 Meilen zum Paradies«, »Im Meer schwimmen Krokodile«), Adoleszenzromane in Tagebuchform (»Dazwischen: Ich«, »Thalita«), doppelte Geschichten, die zwei Schicksale zweier Figuren oder zweier Fluchterfahrungen verbinden (»Das Schicksal der Sterne«, »Der lange Weg zum Wasser«, »Vielleicht dürfen wir bleiben«), fragmentarische Erinnerungsstücke (»Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus«) und Märchen (»Das Mondmädchen«) – alle kreisen um das eine Thema: Flucht, Heimatverlust und Migration. Und alle wollen die Zahlen der Statistiken mit Leben füllen, der Masse ein Gesicht geben, oder eben viele Gesichter.
ES IST EINE LITERATUR, die Empathie und Verständnis erweckt, Fluchtmotive offenlegt, Migration nachvollziehbar und Integration möglich machen will. Wieder einmal soll Literatur als Verständigungshilfe dienen, als Mittel gegen den Krieg und für das friedliche Zusammenleben. Die Leseerwartungen, die an solche Bücher herangetragen werden, sind hoch, nicht selten vom moralischen Impetus des erhobenen Zeigefingers geprägt, Betroffenheit ist vorprogrammiert. Wiewohl die Kinder- und Jugendliteratur erzieherische Indienstnahmen längst hinter sich zu lassen wähnte, scheint sich eine neue Art von Pädagogisierung durch die Hintertür hereinzuschleichen.
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Den gesamten Artikel lesen Sie in 1001 Buch 2|17.
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