Liebe Leserinnen und Leser,
ziehen Sie einen leicht bitteren Espresso dem molligen Cappuccino vor? Haben Sie lieber einen spritzigen Weißen oder einen süffigen Roten im Glas? Macht sauer Sie süß oder ist süßsauer Ihr Favorit? Sie sind richtig hier, dies ist immer noch das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur und nicht für Kulinarik. Aber lassen Sie uns über Geschmack reden. Der bezeichnete ursprünglich die Eigenschaften eines Stoffes, die wir wahrnehmen, wenn wir ihn in den Mund stecken. Und unsere Fähigkeit, sie zu unterscheiden. Ab dem 17. Jahrhundert war die Frage des Geschmacks nicht mehr nur eine, die sich auf leibliche Genüsse bezog, sondern wurde auf ein anderes Feld des Genusses übertragen: Wer einen guten Geschmack hatte, konnte das Schöne vom Hässlichen unterscheiden. Letzteres galt als geschmacklos. Heute hat jede und jeder einen Geschmack und die Frage, ob es ein guter oder schlechter ist, spielt weniger Rolle. Ob man blau oder rot lieber mag, Schiele oder Klimt, Wasser mit oder ohne Kohlensäure, Ed Sheeran oder Matthias Goerne, Gedichte oder Krimis, ob man lieber mit Bleistift oder Kugelschreiber schreibt – alles nur eine Frage des Geschmacks. Über den sich nicht streiten lässt, weil eben jede und jeder seinen eigenen hat.
Wir haben eine Ausgabe von 1001 Buch zusammengestellt, die beide Bedeutungen von Geschmack angenommen hat. Ausgegangen sind wir von der ursprünglichen und haben Begriffe gesammelt, die für die Beschreibung des Geschmacks im Mund relevant sind. Dass es nur fünf echte Geschmacksrichtungen gibt – bitter, süss, sauer, salzig und umami –, wissen wir, das ist aber zu wenig für ein Heft. Also haben wir Adjektive miteinbezogen, die Konsistenz, Temperatur oder Textur betreffen und für unsere Geschmacksempfindung mitverantwortlich sind. Am Ende hatten wir eine Liste mit 24 Wörtern, die wir an 24 Menschen verteilt haben mit der Bitte, dazu einen Text zu schreiben oder eine Illustration zu gestalten. Niemand hat sich »seinen« Geschmack aussuchen können, davon abgesehen gab es keine Vorgaben. Alles ist möglich, haben wir gesagt, wir lassen uns überraschen.
Überrascht hat uns nicht, dass alle Beteiligten ihre Wörter aus der Kulinarik ins Literarische gebracht haben, schließlich sind sie und wir dort zuhause. Die einen haben Geschichten erzählt, die anderen über Geschichten nachgedacht. (Wobei die Grenze fließend ist.) Überraschend war die inhaltliche und formale Bandbreite der eingelangten Beiträge. Sie macht die Geschmacksvielfalt der Literatur unmittelbar anschaulich. Damit sind wir ohne große Anstrengung bei der jüngeren Bedeutung von Geschmack gelandet. Über den sich natürlich streiten lässt. Wäre es anders, wäre Geschmack nur eine subjektive Empfindung, könnten wir uns die Arbeit an diesem Magazin sparen und Sie sich die Lektüre. Hätte jede und jeder Recht mit ihrem und seinem individuellen Geschmack, bräuchte man man keine Literaturkritik und -vermittlung. Aber es gibt jenseits und zwischen »Gefällt mir« oder »Gefällt mir nicht« sehr viel mehr. Es ist möglich und notwendig, gelungene Erzählungen von weniger gelungenen zu unterscheiden. Aber weder mit dem Anspruch, den »guten Geschmack« gepachtet zu haben, noch in der Meinung, dieser sei sauber und objektiv feststellbar. (Auch in diesem Fall bräuchten wir hier nicht weitermachen, sondern würden besser einen Rechner mit Kriterien und Texten füttern, um zu einem unanfechtbaren Geschmacksurteil zu kommen.)
Was es mit dem »guten« Geschmack auf sich hat, wird explizit deutlich in den Beträgen der drei LiteraturkritikerInnen, die wir gefragt haben, ob Kritik Geschmackssache sei. Und implizit auch in allen anderen: Geschmack ist nicht angeboren, sondern wird in vielfältiger Weise erworben, immer auch im Spannungsverhältnis der Gegensatzpaare »Neuartigkeit oder Vertrautheit, Konformität oder Distinktion, Einfachheit oder Komplexität« (Vanderbilt). Und schließlich ist die Frage, warum uns etwas gefällt oder nicht und wie es dazu gekommen ist, interessanter als jene, ob uns etwas gefällt oder nicht. Womit zur Sprache gekommen sind: Der amerikanische Journalist Tom Vanderbilt schreibt in seinem Buch »Geschmack« (Hanser 2016), dass auch Lebensmittelexperten, Geschmacksfachleute par excellence, nicht als solche geboren werden. Was ihr Expertentum ausmache, sei Praxis, Gedächtnis und »am wichtigsten ist vielleicht die Sprache. Man kann, wie schon John Locke festgestellt hat, den Geschmack einer Ananas nur richtig beschreiben, wenn man schon einmal eine gegessen hat. Doch dann kann die Sprache hervorlocken, was genau wir geschmeckt haben. Geschmackstester berichten häufig von einer Rückkoppelungsschleife: Je mehr Aromen man schmeckt, desto mehr Wörter fallen einem ein, die dann noch mehr Aromen hervorlocken. Wie viel von dem Minzgeschmack entsteht erst durch das Wort ›Minze‹?«
Man kann einen literarischen Text nur beschreiben, wenn man ihn gelesen hat. Und je besser man ihn beschreiben kann, desto mehr wird man aus ihm – und dem nächsten – herauslesen. Literarischer Geschmack entwickelt sich beim Lesen und dem zur Sprache Bringen dessen, was man dabei schmeckt.
Anregungen dazu finden Sie in der umfangreichen Speisekarte des Inhaltsverzeichnisses und im Besprechungsteil, wo unsere RezensentInnen zur Sprache bringen, was ihnen warum gemundet hat – oder auch nicht.
Lassen Sie sich diese Ausgabe von 1001 Buch schmecken.
Franz Lettner
Wer ist es?
1. Der schöne erste Satz stammt aus Wolfgang Herrndorfs „Tschick“, erschienen 2010 im Verlag Rowohlt Berlin.
In der Klasse von Maik Klingenberg, dem einen der beiden jugendlichen Protagonisten, sind alle Jungs „voll in Tatjana“. Ihr will Maik ein Poster von Beyoncé schenken.
Songs von Sia, Sinead O‘Connor und Feist finden sich allerdings auf Tamara Bachs Playlist zu ihrem 2016 bei Carlsen erschienenem Buch „Vierzehn“, das zweifach für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 nominiert ist.
2. Nach dem preisgekrönten „Marsmädchen“ 2004 erschien bei Oetinger Tamara Bachs zweiter Roman „Busfahrt mit Kuhn“. Der Bus, mit dem die Jugendlichen am Beginn des Sommers unterwegs zu einem Rockfestival sind, trägt die Aufschrift „Kuhns Eier“.
Der Film „Flußfahrt mit Huhn“ stammt von Arend Agthe (1984), das Buch zum Film –geschrieben zusammen mit Monika Seck-Agthe, erschien 1987.
3. Marc-Uwe Klings Künstlerleben mit Känguru („Die Känguru-Chroniken“, „Das Känguru-Manifest“, „Die Känguru-Offenbarung“, alle erschienen im Ullstein Verlag) genießt man am besten als Hörbuch, vorgetragen vom Autor selbst und erschienen bei Hörbuch Hamburg. Und natürlich ist das Känguru eine kleine Schnapsdrossel.
4. Der Kunstschützenlöwe ist Shel Silversteins „Lafcadio. Ein Löwe schießt zurück“, die Hörbuchversion, vorgeknurrt von Übersetzer und Vortragskünstler Harry Rowohlt, ist noch lieferbar in der 16-CD-Box „Harry Rowohlt für Kinder“, die auch die Klassiker „Pu der Bär“ und „Der Wind in den Weiden“ enthält. Gesamtspieldauer: 17 Std. 30 Min. A.S. Neills Klassiker „The Last Man Alive“ ist in der Übersetzung von Harry Rowohlt und mit Illustrationen von F. K. Waechter immer noch als Rowohlt TB erhältlich, die Hörbuchversion nur noch antiquarisch. Mit Alice hat Harry nichts zu tun.
5. Die geschätzte Autorin heißt Polly Horvath, „The Canning Season“ ist unter dem Titel „Der Blaubeersommer“ 2005 bei Bloomsbury in Berlin in der Übersetzung von Christiane Buchner erschienen und leider vergriffen. Wer es in einer Bibliothek oder antiquarisch findet, kann nachlesen, wie Ratsche zu ihrem Namen gekommen ist. Die beiden Bücher über Primrose, deren Eltern lange Zeit auf See verschollen waren, sind 2015 im Aladin Verlag unter den Titeln „Waffelsommer“ und „Marshmallowwinter“ in der Übersetzung von Sophie Zeitz bzw. Bernadette Ott erschienen.
Und gefragt war insgesamt der Name von Willy WONKA, seines Zeichens Fabriksbesitzer in Roald Dahls 1964 erschienenem Buch „Charlie and the Chocolate Factory (in der Übersetzung aus dem Englischen von Inge M. Artl und Hans Georg Lenzen im Rowohlt Verlag erhältlich).